top of page

Leseprobe aus „tornissinrot – und das Blau ihres Blutes“, Szene 6

6 DIE GLADIOLENDAME


Mainz, Donnerstag, 23. September 2010, 16:40 Uhr

Kommissar Schillings Blick bohrte sich in Sinrots stecknadelkopfgroße rechte Pupille, die wie ein sauberes Einschussloch präzise in der Mitte der reglosen, graublauen Irisscheibe lag. Herr Schilling fühlte sich hoffnungslos begraben unter dieser graublauen Eisplatte, ertrinkend, erfrierend, durch das Loch in einen zufälligen, nicht zu verstehenden Kosmos starrend. Sein Blick klammerte sich an den Rand der Pupille. Vielleicht konnte er dort eine Regung wahrnehmen, ein Zucken, ein Zittern. Doch nichts. Nicht die Resonanz eines Pulsschlags. War Sinrot tot? War er der Tod?

Herr Schilling zog sich innerlich zusammen, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Derartige Ausrutscher ins Philosophische seien der Ermittlung nicht dienlich! Er riss sich also zusammen und kam auf das Wesentliche, den nächsten Schritt der Ermittlung, zurück, und fragte:

„Und?“

Sinrot hauchte, seinen Lippen nur eine angedeutete Öffnung gönnend:

„Was meinen Sie mit ‚und‘? Ich bin mir keines Teilsatzes bewusst, den es zu verbinden gälte.“

„Lassen Sie Ihren Sarkasmus. Der wird Ihnen jetzt auch nicht weiterhelfen.“

Sinrots Lider erschlafften gleichgültig.

Er musste sich einen Hinweis darauf, dass er erst recht von Schilling keine Hilfe zu erwarten hatte, noch nicht mal verkneifen. Die Konversation hatte ohnehin an Dynamik verloren. Folglich wartete er einfach, bis sich Schilling womöglich doch wieder ins Konkrete wagte. Wie ein dummes Hündchen sich irgendwann doch wieder an seinen Napf wagte, obwohl man es dort verdroschen hatte. Widerlich! Sinrot betrachtete Herrn Schilling, dessen buschige Brauen sich zusammenzogen, und lächelte abfällig. Herr Schilling strich sich durch das braune, sanft gewellte Haar und richtete sich etwas auf seinem Stuhl auf, wodurch sich das weiße Hemd, das seinen kräftigen Bauch umspannte, entspannte und einige Falten warf. Er hüstelte und knöpfte einen Knopf seiner ein wenig zerzausten Anzugsjacke zu. Eine Vibration huschte über Sinrots Nasenflügel. Mottenkugeln!, kam es ihm. Genau! Nach Mottenkugeln roch dieser Kretin!

Herrn Schillings Brauen schoben sich noch enger zusammen. Sinrot lehnte sich gelangweilt auf seinem Stuhl zurück und zog gelassen ein Stofftaschentuch aus seiner eleganten Anzugsjacke, das er sich vor die Nase hielt, als wollte er sein Riechepithel vor einem ätzenden Dunst schützen.

„Also. Kennen sie diese Frau?“, insistierte Herr Schilling, die Fotographie auf dem kahlen Tisch näher zu Sinrot schiebend.

„Nein“, antwortete Sinrot, und faltete das Tuch um seinen Zeigefinger.

„Sind Sie sich sicher?“

„Ja, das bin ich.“

„Und wenn ich Ihnen das Gegenteil beweise?“

„Dann wäre ich überrascht“, entgegnete Sinrot stoisch, „Ich denke, mich zu kennen, und bin mir sicher, mir sicher zu sein.“

Herr Schilling schnaubte ein resigniert rauschendes Auflachen durch seine dicht behaarten Nasenlöcher und beugte sich eine Handbreite auf Sinrot zu:

„Gut. Und was sehen Sie auf diesem Bild?“

Sinrot steckte sein Taschentuch weg und meinte amüsiert:

„Verstehe ich Sie richtig, dass Sie von mir dieses Bild beschrieben haben möchten?“

„Das verstehen sie vollkommen richtig!“

„Eine solche Übung erscheint mir ungewöhnlich für diesen Kontext, obschon mir dieser Kontext nicht geläufig ist. Jedenfalls gefällt mir das, dieses Ungewöhnliche.“

„Schön, dass es Ihnen gefällt. Also!“

„Nun“, entgegnete Sinrot lächelnd, „zunächst sticht mir dieses natursteingemauerte Gebäude in Bildmitte ins Auge. Es handelt sich vermutlich um eine Befestigungsanlage, spätes Mittelalter wohl, eindeutig aber romanischer Stil, wie an den Rundbögen über den Fenstern zu erkennen. Diese sind in weiten Abständen zueinander in zwei Reihen in der oberen Hälfte der frontal zum Betrachter liegenden Wand angeordnet. Auf Erdniveau angebaut an diese Wand, deren Höhe ich im Übrigen auf fünfzehn Meter schätze, sind einige Schuppen. In der rechten, zum Bildhintergrund verlaufenden Wand des Gebäudes ist unten ein großer Rundbogen eingelassen. Ein Tor, nehme ich an. Rechts auf dem Dach der Anlage sieht man einen kleinen Turm, links eine quaderförmige Konstruktion, die an einen Bergfried erinnert. Es liegt daher nahe, dass es sich bei diesem Bauwerk tatsächlich um eine Festungsanlage, eine Burg handelt. Nicht sehr groß, allerdings. Die Seitenlängen des Gebäudes schätze ich auf dreißig Meter.“ Sinrot machte eine Pause und blickte Herrn Schilling ausdruckslos an. Dieser blinzelte. Sinrot fuhr fort: „Links des Gebäudes steht ein Baum, der das Dach der Anlage etwa acht Meter überragt. Rechts ganz im Hintergrund sieht man einen mit Laubwald bedeckten Hügel, vor diesem Häuser, und vor diesen einen Fluss. Der Himmel ist wolkenfrei, aber diesig, eine spätsommerliche Schwüle ausstrahlend.“ Sinrot verharrte, ließ seinen Blick sacht nach oben gleiten, und erläuterte: „‚Spätsommerlich‘, weil das Grün der Bäume alt und verbraucht ist, wie nach einem viel zu langen Sommer, der sehnlich auf sein Erlöschen wartet. Ich vermute, Sie stimmen in diesem Punkt mit mir überein, Herr Kommissar.“ Herrn Schillings Augen funkelten. „Zurück zu diesem Bild“, fuhr Sinrot fort, und ergänzte mit einem freundlichen Ausdruck in den Augen und Herrn Schilling die Stirn zuneigend: „Ich pflege Angefangenes dem logisch nächsten Schritt zuzuführen. – Es zu beenden.“

„Daran habe ich keinen Zweifel“, nickte Herr Schilling ernst, und knöpfte den zweiten Knopf seines Sakkos zu.

Sinrot lächelte zugewandt.

Das Spielchen schien wieder an Fahrt aufzunehmen! Also weiter:

Um also auf diese Fotografie zurückzukommen, möchte ich mich nun den vorneliegenden Bildabschnitten widmen. Von der rechten Seitenwand der Burg ausgehend läuft eine niedrige, ebenfalls aus Naturstein gemauerte Mauer nach links auf den Betrachter zu. Die Mauer begrenzt einen Parkplatz links. Dass es sich um einen Parkplatz handelt, ist nicht nur aus den geparkten Fahrzeugen und den für Parkplätze typischen Linien auf dem Asphalt zu erschließen, sondern auch aus dem vor der Mauer stehenden Schild, das auf königsblauem Grund ein großes weißes P zeigt. Hier setzte ich Ihre Zustimmung voraus, Herr Schilling, da dies eher Ihrem Metier nahekommt.“ Sinrot neigte seinen Kopf in opportuner Empathie. Herrn Schillings Lider pulsierten leicht. „Wie dem auch sei“, fuhr Sinrot mit einem wohlwollenden Augenaufschlag fort, „Der Parkplatz liegt zur Linken einer schräg nach hinten rechts ziehenden Straße. Diese mündet, nachdem sie die Burg passiert hat, in eine Uferstraße, die zum Fluss hin abgegrenzt ist mit einer Mauer, deren Beschaffenheit ich allerdings nicht erkennen kann. Links der Natursteinmauer hier vorne, das ist wieder die da neben dem Parkplatz“, erläuterte Sinrot, kaum wahrnehmbar auf die Mauer zeigend, „kann man vorne Weinreben erkennen, an die sich Gestrüpp bis zu den beschriebenen Schuppen anschließt. Vermutlich handelt es sich um den Burggarten.“ Sinrot hob seinen Zeigefinger, als wollte er einen wesentlichen Einschub machen, und ergänzte: „Etwas unordentlich, dieser Bewuchs, wie ich finde. Besen, Schere und Rechen würden hier nicht schaden!“ Herr Schilling wiegte wägend seinen Kopf. Und Sinrot fuhr, seine Hände ineinander faltend, fort: „Jedenfalls sieht man hinter dem Parkschild einen weißen ‚VW California‘ stehen, der mit der Front zu dieser Natursteinmauer geparkt ist. Vor dem Wagen steht eine circa vierzigjährige Frau mit langen, rot gelockten Haaren.“ Sinrot hielt einen Moment inne. Herr Schilling erschien ihm ein bisschen blass im Gesicht, als fehle ihm Anregung, etwas den Kreislauf Stimulierendes! Unmerklich nickend fuhr Sinrot fort: „Die Frau ist schlank, trägt eine Sonnenbrille mit schwarzem Horngestell, hat ein fein geschnittenes Gesicht, und ihre schmalen, doch elegant geschwungenen Lippen schmunzeln. Sie trägt ein Kleid, schwarzer Grund mit hellblauen Blumen. Die rechte Hand ... ich möchte hier klarstellen, Herr Schilling“ – und Sinrot hob wieder, diesmal indes mahnend, seinen Finger – „dass ich mich mit den Rechts–links–Angaben nunauf die tatsächlich rechte beziehungsweise linke Seite dieser Frau beziehe. Denn als Individuum mit einer definierten Vorderseite und einer definierten Rückseite hat diese Frau – im Gegensatz zum Beispiel zu einer Straße – eine definierte rechte Seite und eine definierte linke Seite. Bei einer Straße – um auf dieses Beispiel zurückzukommen – verhält sich dies anders: da hängt die Rechts–links–Bezeichnung vom Beobachterstandpunkt oder der Verkehrsrichtung oder Ähnlichem ab, ist demnach relativ. Ich hoffe, Ihnen ist dies klar, Herr Schilling.“ Herrn Schillings Stirn färbte sich rot. Wie ein Tomätchen, dachte Sinrot. Dieser nickte (zufrieden auch, bei diesem nasenbärtigen Dümmling offenbar zumindest ein rudimentäres Verständnis für grundlegende Raumkoordinaten unterstellen zu können) und fuhr, erneut seine Hände ineinander faltend, fort: „Um Ihr Gedächtnis nach meinem, wie ich denke, notwendigen Exkurs aufzufrischen: Ich war bei der rechten Hand der Dame stehengeblieben. Diese Hand also hängt locker herab und das rechte ...“ Sinrot zwinkerte Herrn Schilling schelmisch zu. „... Knie ist angehoben, als setzte sie, die Dame, gerade zum Gehen an, oder als täte sie so, wenn Sie verstehen, was ich meine. Schließlich hält diese in der linken Hand des angewinkelten – ebenfalls linken – Arms eine circa einen Meter fünfzig lange, weißblütige Gladiole, und zwar mit dem Blütenstand nach oben, sodass dieser ... mit der Spitze gen Himmel weisend ...“, Sinrots Augen strahlten bei diesem Zusatzbeinahe etwas Warmes aus, „... circa zehn Zentimeter neben der linken Wange vorbeiläuft.“

Sinrot und Herr Schilling sahen sich an. Herr Schilling zupfte an seinem Revers, als spannte es über dem Bauch (was es im Übrigen tat), und räusperte sich. Das Zusammenspiel des weichen Gesichts und der unsteten Augen legte Unruhe nahe.

Ängstliche Unruhe, dachte Sinrot. Und verständnislose Leere. Im Kopf. Diesem verschimmelten. Ah, wie ihn das doch angeekelte, diese erbärmliche Dumm... Lediglich den Arm bewegend zog Sinrot sein Taschentuch hervor und hielt es sich erneut unter die Nase. Auf jeden Fall stank sie. Ob sie auch ansteckend war, diese Dummheit? Sinrot nahm einen tiefen, reinigenden Atemzug durch das Tuch und nickte. Davon könnte man ausgehen, vergegenwärtigte man sich die epidemische Verbreitung dieses unschönen Phänomens. Genau. Er sollte vorsichtig sein. EinVirus genügte ihm!

Sinrots Blick verfinsterte sich.

Ärgerlich, dieses behördliche Kasperletheater! Gerade jetzt hätte er Besseres zu tun, als mit diesem Seppel seine Zeit zu ... Ja, gerade jetzt könnte er sich nochmals seinem Problem widmen, dieser Virus–Geschichte, diesem Verdopplungsdesaster auf den Grund gehen! Und was machte er? Jetzt? Hier? Seine Zeit mit diesem seppeligen Schimmelschilling verplempern! Na ja, ewig konnte es nicht mehr dauern, dieses Theater –, wenn dieser Nasenhaarbär mal endlich voranmachte! Sinrot presste die Lippen zusammen und steckte sein Taschentuch weg. Dieser Schilling begriff aber auch gar nichts! Unangenehm, solche Massen überflüssiger Dummheit!

Nach einer Weile fühlte sich Sinrot bemüßigt, Herrn Schillings situativem Verständnis „ein bisschen auf die Sprünge zu helfen“:

„Die Beschreibung des Bildes ist übrigens abgeschlossen, Herr Kommissär. Hat sie Ihnen gefallen?“

„Durchaus präzise, die Beschreibung“, nickte Herr Schilling, „Gut gemacht, Herr Sinrot.“

Sinrot war abgestoßen: Er benötigte Schillings Lob nicht! Jener betrachtete den dichten Haardschungel, der aus den Nasenlöchern seines Gegenübers quoll. Unästhetisch! Unvollkommen! Sinrot verspürte einen Ansatz von Ekel.

„Nun denn“ beendete Herr Schilling das Schweigen, „Dann wollen wir mal zur Interpretation des Bildes schreiten.“

„Zum Spekulativen.“

„Auch, wenn Sie es so nennen möchten, ist es so nicht“, berichtigte Herr Schilling Sinrot, diesen fixierend. Sinrot schaute apathisch durch ihn hindurch. Plötzlich fragte Herr Schilling: „Also: Von wem, denken Sie, wurde diese Frau fotografiert?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Dann ‚spekulieren‘ Sie mal.“

Herrn Schillings Augen funkelten wieder, diesmal aber gespannt, was Sinrot indes nicht berührte, da er keinesfalls hier sei, diesen Überflüssling zu unterhalten, doch empfinde er sich nun unterhalten. Sinrot legte daher seine „Spekulation“ zum Thema dar:

„Von einem Mann vermutlich.“

„Ach. Wie kommen Sie denn darauf?“

„Sollte ich meine ‚Spekulation‘ etwa begründen?“

„Natürlich. Wir wollen uns doch ein wenig kennenlernen.“

Derartige „Jovialitäten“ waren nicht nach Sinrots Geschmack:

„Ich lege keinen Wert auf Ihre Bekanntschaft.“

„Das ist mir egal. Also, was bewegt Sie zu diesem Schluss?“

„Die Gladiole“, antwortete Sinrot phlegmatisch, „Denn es macht den Anschein, die Dame freue sich, die Blume bekommen zu haben, sie halten zu dürfen. Und bei Personen ihres Schlages – ich halte sie für eine durchschnittliche, recht simple Person – verursacht der ‚romantische‘ Kontakt zum anderen Geschlecht, welcher üblicherweise mit Blumengaben einhergeht, schlichte Freude.“

„Interessant“, lächelte Herr Schilling. Sinrots Blick leerte sich. „Und warum“, nahm Herr Schilling den Faden wieder auf, „hat dieser unbekannte Fotograf der Frau gerade eine Gladiole geschenkt? Wollte er ihr damit etwas Bestimmtes sagen?“

„Sie unterstellen symbolischen Charakter des Geschenks?“

„Ja. Das regt die Phantasie an.“

Sinrots Oberlippe wölbte sich degoutiert.

Für wen dieser Dummhansel ihn hielt, brauchte ihn nicht zu kümmern. Aber zu versuchen, jede Handlung, die man nicht verstand, mit irgendeiner volkstümlichen Symbolik zu assoziieren, erreichte noch nicht einmal das Niveau des Trivialen. Wenn dieses Spatzenhirn jedoch eine Symbolik wollte, konnte er ihm ruhig eine hinwerfen, wobei er sinnvollerweise davon absehen sollte, die des Schwertes auszubreiten. Besser beschränkte er sich auf die des Gemeinen, die in jeder Schundgazette zu eruierende. Zudem wollte er den armen Schilling doch nicht überfordern!

Sinrot erläuterte folglich behutsam:

„Naheliegend ist, dass der gemutmaßte Herr der Dame nicht nur eine wie auch immer geartete ‚Zuneigung‘, sondern ebenso seine ‚Wertschätzung‘ bekunden wollte. Die Wertschätzung ihrer unabhängigen und starken Persönlichkeit. Denn symbolisch wird die Gladiole ‚gemeinhin‘ mit diesen Attributen belegt.“

„Schön. Können Sie sich auch eine andere Symbolik vorstellen?“

„Man kann sich vieles vorstellen, Herr Schilling, was ich derweil nicht elaborieren möchte. Ich beginne mich zu langweilen.“

„Mögen Sie Gladiolen?“

„Frische, feuchte schon“, entgegnete Sinrot kalt. Herr Schilling schluckte. „Wann schaut eigentlich der gute Hauptkommissar Wimmer noch mal vorbei?“, erkundigte sich Sinrot mitfühlend.

31 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

コメント


bottom of page