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Lesesprobe aus "Die Methode Cortés - Band III" - Szene 87 und 88

87 „Keine leichte Entscheidung“


Mit Flug und Mietwagen hatte alles funktioniert und ich kam „unerkannt“ in Freiburg an, ja, ich fand sogar Huberts Haus auf Anhieb und ohne Umweg wieder. Fünf Tage wollte ich bleiben. Und diese waren – wie nicht anders zu erwarten, wenn ich bei Hubert und Traudel logierte – geprägt von hemmungslosem Schlemmen, welches zum einen ein vehementes Völlegefühl in mir verursachte, mich zum anderen aber optimistisch stimmte, denn allzu schlimm konnte es nicht stehen um meinen Freund, so wie der noch „zuzuschlagen“ vermochte mit seiner einen Hand. Er hatte sich im Übrigen schon vor meiner Ankunft für die Strahlentherapie entschieden. Der Behandlungsplan war bereits erstellt. Unmittelbar nach meiner Abreise sollte es losgehen.

Unseren letzten Abend wollten wir – Traudel hatte sich zwei Flaschen zuvor zur Nachtruhe verabschiedet – mit einem „Chateau Mouton Rothschild“ abschließen, den sich Hubert als Krönung unseres Treffens aufgehoben hatte. Nach dem ersten Schluck stellte Hubert genüsslich schmatzend sein Glas ab, lehnte sich in seinem Sessel zurück, massierte seine linke Hand – er spüre sie inzwischen nicht mehr! – und fragte:

„Was macht eigentlich deine Maria?“

Ich inhalierte noch einmal dieses köstliche Bukett, und erklärte:

„Abgesehen davon, dass Maria noch nie ‚meine‘ Maria war, ist sie es auch in der von dir gemeinten Weise seit geraumer Zeit nicht mehr. Wir haben auch kaum noch Kontakt miteinander. Ich kann die Frage also nicht beantworten.“

Nach der Trennung von Anna waren Maria und ich noch einige Male „zusammen“ gewesen, was aber ob meiner Arbeitsbelastung nie so recht funktioniert hatte. Anders als in der ersten Beziehung mit Maria hatte mich Clara in den folgenden Episoden nicht mehr kummervoll gestimmt: Da ich viel zu tun gehabt hatte, hatte ich mich nur alle ein bis zwei Wochen mit Maria getroffen und dies meist an Tagen, an denen Clara bei ihrem Vater gewesen war. Meine letzte Episode mit Maria lag drei Jahre zurück. Von dieser hatte ich Hubert noch erzählt. Er kannte Maria persönlich, weil wir ihn vor knapp sieben Jahren (damals waren Maria und ich gerade zusammen gewesen) besucht hatten. Hubert wiegte nachdenklich seinen Kopf und sagte:

„Schade, dass das nicht geklappt hat mit euch. Traudel und ich fanden, dass ihr gut miteinander harmoniert habt.“

„Na ja“, lächelte ich, „Maria und ich haben in manchen Punkten sogar hervorragend harmoniert. Aber sie besitzt nun einmal jenen bei Frauen – genetisch? – fixierten Hang, der mit meinen Prioritäten nicht vereinbar ist: Den Zwanghang!“

„Den ‚Zwanghang‘?“

„Ja. Den Hang, unnötige Zwänge zu erzeugen: Maria hat viel Aufmerksamkeit gefordert, und zwar auch, wenn mir nicht danach war oder ich gerade vermehrt auf das Schreiben fokussieren musste. Und da dieses meine erste Priorität ist, eben der von mir angestrebte Beruf, und ich gewisse ‚Jugendsünden‘ – ich erinnere an das Drama um meine Forschung und Magnolia! – nicht wiederholen werde, kam es bei Maria und mir eben immer wieder zur Trennung.“

„Wieso ist dir dein Beruf so wichtig?“

„Na ja, noch habe ich ja keinen Beruf“, seufzte ich, und fuhr unlustig fort: „Noch strebe ich ihn an. Und wie’s aussieht, vergeblich.“ Hubert nickte ernst. Ich schloss: „Und warum mir ein Beruf so wichtig ist beziehungsweise wäre, hatte ich schon erwähnt. Vorgestern, glaube ich.“

Hubert wiegte skeptisch seinen Kopf und meinte:

„Wahrscheinlich ist es mir nicht so ganz klar. Könntest du das noch mal erklären?“

„Ja“, richtete ich mich ein wenig in meinem Sessel auf, und erklärte also: „In den letzten Jahren habe ich festgestellt, dass es mein Beruf ist, der mich ausmacht und ticken lässt. Auf meinen Beruf kann ich also nicht verzichten. Auf alles andere schon.“

„Aber du hättest doch einen Beruf. Du bist Arzt!“

„Auch das hatte ich bereits angeschnitten: Diese Beschäftigung sehe ich nicht als Beruf an. Sie ödet mich an und beinhaltet nicht die Ingredienzen, die eine Tätigkeit für mich zum Beruf machen.“

„Und was sind diese ‚Ingredienzien‘?“

„Kreativität und Herausforderung“, zuckte ich die Schultern, als sei dies doch selbstverständlich; Hubert grinste und meinte:

„Na ja, dann hast du ja ganz schöne Ansprüche. Ist das nicht ein bisschen verwöhnt, ja, sogar anmaßend?“

„Okay, ‚verwöhnt‘ schon!“, lachte ich, doch relativierte: „In der Hinsicht, dass ich diese Ansprüche jahrelang erfüllt bekommen hatte: In meinem Beruf als Forscher. Insofern wurde ich seinerzeit ‚verwöhnt‘.“ Ich rieb mir das Ohr (es hatte geklingelt, die Raucherei wahrscheinlich) und erläuterte weiter: „Diese Ansprüche hatte ich allerdings natürlicherweise erfüllt bekommen. Weil ich das nötige Talent besessen und mich engagiert hatte. Deshalb kann man sie nicht als ‚anmaßend‘ bezeichnen. Ich hatte mir schließlich nichts angemaßt, das mir nicht zugestanden wäre. Ich hatte lediglich einen Beruf ausgeübt, für den ich die optimale Passung hatte. Und das ist weder verwöhnt noch anmaßend.“

„Stimmt“, nickte Hubert. Er fixierte mich und fragte: „Hattest du denn vor deinem Weggang aus Austin nicht begriffen, welchen Stellenwert deine Forschung für dich hat?“

„Leider nicht“, seufzte ich, „Das lief bei mir früher auf Instinktebene. Ich wusste zwar, dass mir die Forschung wichtig war. Aber ich wusste weder, wie wichtig sie mir war, noch, welche Rolle hier Kreativität und Herausforderung spielen! Hätte ich’s gewusst, hätte ich mich nicht zu diesem Fehler hinreißen lassen, meine Forschung aufzugeben.“

Hubert hob seine rechte Braue ungläubig und sagte:

„Ich erinnere mich, dass du mir vor ein paar Jahren erzählt hast, dass Herausforderung und Freiheit deine Triebfedern seien.“

Da hatte er recht. Sein Gedächtnis funktionierte offenbar noch.

„Richtig“, nickte ich daher, „Das war die Phase, in der ich noch unter dem Eindruck meines Weggangs aus St. Louis stand. Falsch lag ich mit dieser Aussage übrigens nicht. Ich denke, ich hatte damals mit Freiheit bloß etwas unreflektiert ‚Kreativität‘ gemeint. Dazu kommt, dass ich mich weiterentwickelt habe: Ich verstehe mich jetzt besser. Was du sagst, stellt also keinen Widerspruch dar.“

Hubert runzelte nachdenklich die Stirn und meinte:

„Aber deine Forschung ist vorbei. Und zwar unwiderruflich, wenn ich dich da richtig verstanden habe.“

„Da hast du mich absolut richtig verstanden! Deshalb versuche ich ja verzweifelt, etwas anderes zu finden, in dem ich kreativ sein kann und Herausforderung habe.“

„Gut“, hob Hubert seine taube Hand, „Gehen wir das mal Punkt für Punkt durch: Herausforderung haben kannst du auch als Arzt.“

„Nein“, schüttelte ich den Kopf. „In dem Job habe ich keine Herausforderung. Was ich da auf dem Niveau, auf dem ich agiere, brauche, kann ich mir spielend aneignen. Außerdem ist das gar nicht das Entscheidende: Herausforderung musst du wollen und sie muss real und machbar sein.“

„Könntest du das erläutern.“

„Gerne. Ad eins: das Gewollte. Mathematik zum Beispiel würde für mich auch auf niedrigem Niveau eine Herausforderung darstellen, die ich aber nicht will, weil mich Mathe so wenig interessiert wie ein Arztjob. Und ad zwei: das Machbare. Komponist zu sein, beispielsweise, wäre für mich nicht machbar. Ich liebe Musik, ja, ich wäre glücklich, selbst komponieren zu können. Aber dafür fehlt mir die Begabung, das ist nicht ‚machbar‘.“

„Okay, so weit, so gut“, nickte Hubert. Er richtete seinen Finger auf mich und fuhr fort: „Dann zum nächsten Punkt: Wie sieht’s mit der Kreativität aus? Kannst du die nicht haben im Arztberuf?“

„Im Arztjob!“, verbesserte ich Hubert (er schmunzelte), doch beantwortete gleich seine Frage: „Aber zu deiner Frage: Kommt darauf an, was du unter Kreativität verstehst. Ich verstehe darunter nicht, mit einem geblümten Arztkittel herum zu hüpfen oder Rezepte mit Ornamenten zu bemalen. Ich verstehe Kreativität im ursprünglichen Sinne: Kreativität heißt schöpferisch sein, etwas Neues schaffen. Arbeite ich als Arzt, schaffe ich nichts Neues, sondern wende an, was andere herausgefunden, also geschaffen haben. Und damit wäre ich bei einer wichtigen Eigenschaft, die das ‚Neue‘, das ich ‚schaffen‘ möchte, für mich haben muss: Für mich essentiell ist, dass dieses Neue zumindest die Chance hat, eine Weile zu ‚bleiben‘, einen Einfluss auf andere auszuüben. Mir würde es also nicht genügen, auf einer Insel grandiose Kunstwerke zu schaffen, die niemand je zu Gesicht bekäme. Nein, es muss etwas sein, das tatsächlich einen Nutzen für andere haben kann. In der Forschung war das für mich in Idealform gegeben.“

„Das liegt auf der Hand“, nickte Hubert, „Aber was für einen Nutzen sollte deine Schriftstellerei haben?“

„Ich könnte zum Beispiel Sichtweisen anbieten, die den einen oder anderen dazu bewegen, die Welt anders zu sehen und sich anders zu verhalten. Derartiges kann etwas bewirken!“

„Ein hoher Anspruch“, hob Hubert beide Brauen.

„Nicht wahr?“, grinste ich.

Hubert musste lachen, nippte an seinem Wein und meinte:

„Ist ja alles ganz nett, was du da sagst. Aber gesetzt den Fall, du würdest Schriftsteller werden und schaffen und schaffen und schaffen –, doch ohne Effekt, ohne, dass dein Geschreibsel einen Einfluss hätte. Wäre das nicht frustrierend für dich?“

„Natürlich würde ich gerne Wirkung erzielen. Frustriert wäre ich in dem von dir genannten Fall aber nicht großartig. Für mich wesentlich wäre, dass ich mit meiner ‚Kreativität‘ wenigstens die realistische Möglichkeit habe, etwas zu bewirken.“

„Meinst du“, grinste nun Hubert, „dass du das schaffst?“

„Weiß nicht“, verging mir das Grinsen, „Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich überhaupt die Begabung habe, Schriftsteller zu werden.“

„Und unter diesen Voraussetzungen widmest du dich dieser Sache? Mit diesem Aufwand?“ (Hubert wusste, wie viel Zeit ich in meine schriftstellerischen Bemühungen investiert hatte.)

„Wie gesagt“, schnaufte ich, „Ich hatte ja die Hoffnung, diese Begabung zu haben. Sonst hätte ich’s gar nicht erst versucht. Um das zu verdeutlichen: Es gibt nicht viele, aber einige ‚kreative‘ Berufe. Komponist hatte ich erwähnt – und ob mangelnden Talents gar nicht erst erwogen. Politiker, Unternehmer, Philosoph, Filmemacher, Maler wären andere ‚Möglichkeiten‘. Aber auch für diese mangelt es mir am Wesentlichen: an der Begabung. Das weiß ich. Beim Schreiben hingegen weiß ich es nicht. Da kann ich noch hoffen!“

Hubert stierte in sein Glas. Nach einem Moment runzelte er die Stirn, sah mich ernst an und sagte:

„In der Forschung hattest du diese Begabung.“

„Richtig“, sagte ich gepresst, und versuchte die Wut zu unterdrücken, die mich jedes Mal erfasste, wenn ich mir dies vor Augen führte. Ich ergänzte: „Und das macht mich auch so bestimmt in meinem Streben: Ich habe die Begabung, dieses ‚Geschenk‘, und ich hatte ebenso das andere, das noch seltenere ‚Geschenk‘, diese Begabung nämlich leben zu können und damit die Essenz meines Seins zu erfüllen. Und was mach ich mit diesen Geschenken?“ Ich musste kurz an Oswald, meinen biologischen Vater denken, was mich noch wütender machte und den Impetus meiner Antwort auf meine Frage erhöhte: „Ich schmeiße sie weg!“

„Und das kannst du dir nicht verzeihen!“

„Du triffst es“, knurrte ich.

Hubert atmete scharf durch die Nase aus und sagte:

„Wäre wahrscheinlich besser gewesen, du wärest damals in St. Louis geblieben. Da hattest du ja noch mal die Chance, wieder in deine Forschung einzusteigen.“

„Nein“, schüttelte ich den Kopf. „Meine Entscheidung mit St. Louis war okay, denn dort hätte ich nur als abhängiger Forscher arbeiten können, im zweiten Glied, was mich nicht interessiert, auch, weil ich da im Grunde nur helfe, die Kreativität anderer umzusetzen. Der eigentliche Fehler war, Austin zu verlassen. Damit hatte ich jede Möglichkeit aufgegeben, als unabhängiger Forscher arbeiten zu können.“ Ich überlegte einen Augenblick und schränkte ein: „Na ja, vielleicht hätte Kopenhagen noch was werden können. Aber egal. Das ist Spekulation. Fest steht: Meine Stelle in Austin hätte ich niemals aufgeben dürfen!“

Wir sahen uns an. Nach einigen „Schweigesekunden“ schlussfolgerte Hubert:

„Also willst du weitermachen mit deiner Schreiberei.“ Ich wiegte meinen Kopf. Hubert ergänzte: „Auf Biegen und Brechen weitermachen. Und womöglich auf verlorenem Posten.“

Über diesen Problemfall hatte ich schon nachgedacht, weshalb ich ohne Umschweife antworten konnte:

„Wenn ich meinen ‚Posten‘ als ‚verloren‘ erkenne, höre ich auf.“

„Und dann?“, sah mich Hubert ernst an.

„Dann segle ich weiter“, zuckte ich die Schultern.

„Warum segeln?“

„Weil ich damit wenigstens die letzte mir verbliebene Essenz verwirklichen kann. Ist ein bisschen untergegangen in unserem Gespräch: die Herausforderung. Die will ich ja auch. Die ist mir ja auch wichtig. Und die könnte ich mit dem Segeln haben.“

Hubert schien zu überlegen. Nach einer Weile fragte er:

„Und warum genau würdest du mit dem Schreiben aufhören, wenn du dich auf verlorenem Posten fühltest?“

Ich musste lachen und antwortete:

„Ich käme mir vor wie ein spinnerter Schinkenmaler, der davon überzeugt ist, ein Picasso zu sein, aber eben bloß Dreck hinbekommt. Das wäre lächerlich!“

„Ich sehe“, neigte Hubert seine Stirn. Er sah mich forschend an. Es verging bestimmt eine Minute, bis er erneut anhob: „Um noch mal auf das ‚Wesentliche‘ deiner Person zurückzukommen, diese Sache, die dich ticken lässt, die Essenz deines Seins: Was macht dich so sicher, dass du das richtig siehst?“

„Zwei Dinge: Studium und Erfahrung“, konnte ich auch diese Frage prompt beantworten. Hubert sah mich fragend an. Ich erklärte: „Mit ‚Studium‘ meine ich die Arbeit an meinem ersten Buch.“

„Der ‚Methode Cortés‘?“, schaute er perplex.

„Ja. Wie du weißt, handelt es sich um meine Biografie. Ich war also gezwungen, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Dies half mir, ein klares Bild von mir zu bekommen, was übrigens gar nicht so einfach ist.“ Hubert nickte, als könnte er das gänzlich nachvollziehen. Ich legte weiter dar: „Und mit ‚Erfahrung‘ meine ich meine dreifache Erfahrung des Verlusts und die Kenntnis der ‚Konsequenzen‘, die sich aus jedem dieser Verluste ergaben: Der erste Verlust war die Trennung von Magnolia. Konsequenz: Den hatte ich schnell überwunden, der war offenbar nicht so wichtig. Der zweite Verlust waren die Kinder. Die beiden hatte ich ja einst als meine höchste Priorität angesehen, weshalb es bei deren Verlust Jahre gedauert hat, bis ich ...“

„Ach!“, unterbrach mich Hubert so überrascht, dass ihm fast sein Weinglas übergeschwappt wäre. Wie aus einem absurden Traum erwachend blinzelte er mich an und fragte: „Sind die beiden etwa nicht mehr deine höchste Priorität?“

„Nein. Und jetzt, wo ich meine eigentliche ‚Essenz‘ kenne, muss ich sagen: sie hätten auch nie meine höchste Priorität sein dürfen. Hättest du mich ausreden lassen, hätte ich dir genau das schon erläutert, diesen Schritt meiner ‚dreifachen Erfahrung‘: Seit etwa fünf Jahren habe ich den Verlust der Kinder überwunden. Missverstehe mich nicht: Ich liebe sie und sie sind wichtig für mich. Aber ich habe ihren Verlust verkraftet und kann diesen Abschnitt meines Lebens ‚leidfrei‘ betrachten, habe mich damit abgefunden.“ Ich machte eine Pause und sah Hubert an. Er schien gespannt. Ich fuhr fort: „Die dritte Erfahrung nun stellt den entscheidenden Schritt dar: Die war der Verlust meines Berufs. Diesen Verlust habe ich nicht verkraftet. Der bohrt unvermindert, ja, ich leide sogar umso mehr darunter, je mehr ich verstehe, was ich da überhaupt verloren oder genauer weggeworfen habe: Mich selbst! Und dafür könnte mich ohrfeigen, mir die Fresse polieren, mir die Ohren ausreißen und den Hals rumdrehen.“ Ich hatte mich ein wenig erregt. Hubert sah mich mit weit geöffneten Augen an. Mich fassend griff ich mir eine Zigarette und resümierte: „Diese ‚dreifache Erfahrung‘ also hat mich gelehrt, was meine Prioritäten sind, was mich ausmacht, und was meine Essenz ist.“

Hubert betrachtete sein nun leeres Weinglas. Nach einigen Sekunden wandte er mir langsam seinen Kopf zu und fragte (offenbar hatte er mein ebenfalls leeres Weinglas bemerkt):

„Willst du noch einen Wein? Ich brauch jetzt einen.“

„Ja. Ich schenk uns ein“, lächelte ich, denn die Weinflasche zu öffnen, die er mir entgegenhielt, würde ihm schwerfallen mit der einen Hand, die ihm momentan bloß zur Verfügung stand; ich entkorkte die Flasche und schenkte uns ein.

„Auf deine Essenz“, prostete er mir zu.

„Auf meine Essenz“, lächelte ich.

Nach kurzer Stille meinte Hubert (er ließ an diesem Abend aber auch gar nicht locker!):

„Dann lagst du ja mit deiner ‚Methode Cortés‘ ganz schön daneben!“

„Hm?“, fragte ich verdutzt, und stellte mein Glas ab.

„Na, wenn ich dieses Werk richtig verstanden habe ...“ (Ich hatte Hubert vor einigen Jahren eine frühe Version des Manuskripts überlassen, eine Version, die dieses Kapitel noch nicht enthalten hatte.) „... preist du darin doch die unschlagbare Effizienz der Methode Cortés, die Angst zu beseitigen, und so zu dem zu gelangen, was man will!“

Ich schnaufte verärgert: Musste ich ihm also eingestehen, was ich mir schon lange hatte eingestehen müssen! Ich erläuterte:

„Ganz daneben lag ich mit dieser Darstellung nicht. Was mit der Methode Cortés tatsächlich gelingt, ist, bestimmte Ängste zu besiegen. Und was mit der Methode auch gelingt, ist, zu dem zu gelangen, was man in einem konkreten Moment will. Ob das, was man in diesem Moment will, aber auch ist, was man tatsächlich und langfristig will, steht auf einem anderen Blatt. Gerade in meinem Fall kann ich sagen, dass mich die Methode Cortés genau das gekostet hat, was ich wirklich hätte wollen sollen, nämlich meinen Beruf.“

„Na ja, die Umstände waren schon hart für dich. Magnolia hat dich verleumdet, dir die Kinder vorenthalten, dich in die Enge getr...“

„Das ist richtig“, unterbrach ich ihn, „Und ich bin daher auch nicht unbedingt ein Fan Magnolias. Aber ich will nichts beschönigen und nicht von der eigentlichen Kausalität ablenken: Ich habe meinen Beruf geschmissen! Ich allein! Zwar hat mich Magnolia mit ihrem Verhalten in diese Richtung genötigt, aber die Entscheidung, ob ich meinen Beruf aufgebe oder nicht, lag letztlich bei mir! Das kann ich keinem anderen in die Schuhe schieben!“

Ich betrachtete kurz meine Schuhe. Als ich aufblickte, fragte Hubert grinsend:

„Noch nicht einmal der Methode Cortés?“

„Der vielleicht“, lachte ich, „Aber die hatte ich mir ja selbst zusammengesponnen! Klar ist indessen – und das möchte ich zu dieser Methode schon gesagt haben! –, dass ich es ohne die ‚Tricks‘ der Methode Cortés nie ‚hinbekommen‘ hätte, meine Essenz zu ‚verfeuern‘.“ (Mit „Tricks“ hatte ich insbesondere das an anderer Stelle elaborierte „dissoziative Kontrastieren“, das „subjektive Reversionseliminierungsprinzip“, das „Prinzip der induzierten Angstabsurdität“ und an erster Stelle das „Konzept der gepaarten Unmöglichkeiten“ gemeint. Hubert hatte diese Prinzipien seinerzeit als „witzig“ bezeichnet. Jetzt konnte ich aber sagen: Vorsicht mit diesen Prinzipien! Und jetzt legte ich weiter dar:) „Und im Nachhinein kann ich ohne Zweifel konstatieren: Es wäre besser gewesen, mich auf den einen oder anderen Kompromiss eingelassen zu haben, selbst wenn er demütigend gewesen wäre. Wenigstens hätte ich behalten, was mich ausmacht: meinen Beruf.“

Nach dieser Ausführung hockte ich ein wenig zusammengesunken in meinem Sessel, so, als hätte man ein bisschen Luft aus mir abgelassen. Mit anderen Worten: ich fühlte mich beschissen. Hubert hob die rechte Braue und sagte:

„Also ist die Methode Cortés scheiße!“

„Nicht ganz“, seufzte ich luftleer, „Sie hat mich letztlich dazu gebracht, dieses Buch zu schreiben. Und dadurch und durch die von der Methode Cortés verursachten ‚Erfahrungen‘ habe ich am Ende eben verstanden, was meine Essenz ist. Insofern ist die Methode Cortés durchaus geeignet, zu seiner eigenen Essenz zu gelangen.“

„Schön“, nickte Hubert, und verkündete fast fröhlich: „Das ist doch schön, um die eigene Essenz zu wissen!“

„Ja, ‚schön‘“, lachte ich verächtlich durch die Nase auf, „Dumm nur, dass mir diese Erkenntnis jetzt nichts mehr bringt. Denn was bleibt, ist, dass ich jetzt weiß, wie ich mich in einer Situation verhalten würde, die es für mich nicht mehr geben wird, weil ich sie mir nachhaltig vermasselt habe!“

„Eine frustrierende Erkenntnis.“

„Du sagst es“, nickte ich, frustriert.

Hubert schaute mich eine Weile an. Ich weiß nicht, ob ich Mitleid oder Ärger in seinen Augen las. Ärger hätte es sein können, denn er mochte mich. Immerhin war er so etwas wie ein Vater für mich gewesen. Und ich hätte mich als Vater geärgert, wenn einer meiner Söhne so eine Scheiße gebaut hätte, wie diese eben eingestandene. Ich überlegte mir einen Moment, ob ich jemals als Vater in diese Situation kommen könnte, und sah ein, dass es auch diese Situation nicht mehr für mich geben würde.

Tatsächlich? Zum Glück?

„Noch eine Frage“, unterbrach Hubert mein Inmichgehen, „Was hättest du gemacht, wenn du deine Forschung nicht geschmissen hättest, sondern katastrophal in ihr gescheitert und so um deine Essenz gebracht worden wärest?“

„Du bist kein Dummer, Hubert!“, wippte ich mit meinem Zeigefinger auf ihn (hatte er mich überrascht, der alte Mann!).

„Ich weiß“, lächelte er, „Also: Was wäre dann?“

Ich überlegte kurz und antwortete:

„Damit hätte ich mich abgefunden.“

„Was hättest du gemacht, nachdem du dich damit abgefunden hättest?“

„Etwas anderes.“

„Und was?“

„Vielleicht genau das, was ich die letzten Jahre gemacht habe. Oder das, was ich noch machen werde.“

„Du weißt noch nicht, was du machen wirst.“

„Nein. Diese Entscheidung steht noch an.“

„Keine leichte Entscheidung, Jakob!“

„Auch das weiß ich!“

Ich konnte schlicht nicht anders. Ich musste immer das letzte Wort haben. Hubert lächelte.


88 „Ich glaub, du musst los.“


Beim Frühstück am nächsten Morgen, dem Morgen meiner Abfahrt, sprachen wir zunächst nicht über das Thema des Vorabends. Hubert hatte vermutlich verstanden, worum es mir ging. Und dass ich meine Sichtweise in diesem Zusammenhang nicht ändern würde, hatte er vermutlich auch verstanden. Für uns ungewöhnlich, sprachen wir ohnehin kaum bei diesem Frühstück. Ab und an trafen sich unsere Blicke, doch huschten sie gleich zurück auf den Tisch.

Während ich sorgfältig mein Brötchen bestrich, wackelte auf einmal ein blecherner Trommelclown mit mühsamen Schrittchen durch meine Vorstellung. Bis er stehen blieb. Ich musste an Alicante denken, als ich mich, im Juni 2005 war das gewesen, innerlich zerrissen hatte, ob ich in Austin bleiben oder nach Europa zurückkehren solle. Damals hatte ich meine höchste Priorität in meinen Kindern gesehen und mich gegen Austin entschieden. Heute wusste ich, dass dies falsch gewesen war. Ich hätte in Austin bleiben sollen. Betrachtete ich all die Jahre, deren sich inzwischen einige bei mir „angesammelt“ hatten, konnte ich jetzt ohne Zweifel feststellen, dass der mit Abstand größte Fehler meines Lebens gewesen war, meine Stelle in Austin und damit meine Karriere als unabhängiger Forscher aufgegeben zu haben. Diesen Fehler hätte ich nie begehen dürfen! Und dieser Fehler quälte mich noch heute! Mehr denn je, sogar. Denn mit jedem Jahr, in dem die Bedeutung alles anderen für mich schwand, blieb die Bedeutung dieses einen, meines Berufes, den ich nicht mehr hatte, für mich bestehen. So hatte ich im Laufe der Zeit verstanden, dass letztlich nur dieses eine Ding in meinem Leben eine tiefe und nachhaltige Bedeutung gehabt hatte: meine Forschung. Und diese aufgeben zu haben, war schlicht ein wesentlicher Fehler gewesen. Der wesentliche Fehler!

Ich hatte viele Fehler gemacht in meinem Leben. Ein großer war gewesen, dass ich mich wider einen verzweifelt in mir schreienden und wie wahnsinnig an seine Käfigwände trommelnden Instinkt auf meine Frau eingelassen hatte. Ich könnte noch andere Fehler nennen. Schwere auch. Alle aber hatten sie eines gemeinsam: Am Ende zählten sie nicht. Sie kratzen mich einfach nicht mehr! Bis auf den einen eben. Bis auf den Fehler, den ich damals in Alicante begangen hatte. Der hatte meine Essenz getroffen. Der hatte genau diese zerstört. Der war nicht wieder gutzumachen. Und da ich mich nicht als Debilen bezeichnen konnte – ich hätte es wissen müssen! –, war er auch nicht zu verzeihen. Ich schnaufte schwer durch die Nase aus.

Vielleicht zu vergessen? Irgendwie? Irgendwann?

„Ich glaube, du wirst bald lossegeln“, unterbrach Hubert mein Sinnieren; fast erschrocken sah ich ihn an und antwortete reflektorisch:

„Glaub ich auch.“ (Im Grunde wusste ich in diesem Augenblick, dass es nun bald an die Verwirklichung meiner „letzten“ Essenz ginge. Ich hatte mich indes noch nicht entschieden, und das machte für mich einen Unterschied!)

Hubert und ich fixierten einander. Wut erkannte ich jetzt nicht in seinen Augen. Etwas anderes war es, aber ich wusste nicht, was.

„Kann ich eine haben?“, fragte Hubert unvermittelt.

Er zeigte auf meine Zigaretten. (Ich hatte sie auf dem Tisch liegen lassen, obwohl ich in Huberts Heim nicht geraucht hätte, seit er dieses Laster aufgegeben hatte; zum Rauchen bei ihm ging ich immer auf die Terrasse.) Ich überlegte kurz, rief mir ins Gedächtnis, dass Hubert ein erwachsener Mann war, und sagte:

„Klar.“

Ich schob ihm die Schachtel hin und legte mein Feuerzeug daneben. Hubert nahm sich eine Zigarette, zündete sie an, inhalierte tief, lächelte, und tippte – im Grunde viel zu früh – die Asche in ein leeres Ei ab. Er inhalierte nochmals – die Zigarette schien ihm zu schmecken! – und sagte, nach wie vor lächelnd:

„Wirst du wieder Kontakt mit den Kindern aufnehmen, bevor du abreist? Oder die beiden zumindest zum Abschied sehen?“

„Nein“, musste ich nicht lange überlegen, denn ich hatte mir auch über dieses Thema gründliche Gedanken gemacht. Von diesen wusste Hubert allerdings nichts, weshalb ich (viel zu kurz, eigentlich) erläuterte: „Das würde keinen Sinn machen: Die zwei noch ein letztes Mal sehen, und dann auf nimmer Wiedersehen verschwinden? Nein, das fände ich unangemessen.“ (Zu diesem „viel zu kurz“, das ich angerissen hatte: Ich hatte, wie erwähnt, diesen Punkt überdacht und mich „mit mir“ auf folgendes Vorgehen „geeinigt“: Würde ich es schaffen, mich als Schriftsteller zu etablieren, hätte ich gerne wieder Kontakt mit meinen Söhnen aufgenommen. Ich wäre ihnen dann, obschon sie inzwischen fast erwachsen waren, auch liebend gerne Vater gewesen und hätte sie unterstützt, wo ich gekonnt hätte. Dies hätte ich auch problemlos zuwege bringen können, da mein Leben als Schriftsteller – vom Alltagssetting her – ein relativ normales gewesen wäre. Anders hingegen würde es aussehen, wenn meine beruflichen Bemühungen ins Leere liefen, ich also dazu überginge, meine „letzte Essenz“, die Herausforderung – oder konkret: das Seglerleben – anzugehen. In diesem Fall würde es nämlich gar nicht funktionieren können, den beiden Vater zu sein. Zum einen wäre ich ständig unterwegs, würde also eine alltägliche Vaterrolle niemals ausüben können. Zum anderen hätte ich keine Einnahmen und müsste daher von meinen Ersparnissen leben, die eben nur für mich reichen würden, nicht aber dafür, den Kindern zum Beispiel das Studium zu finanzieren oder anderweitig unter die Arme zu greifen. Dass ich in diesem Falle meinen Kindern nach ihrer Volljährigkeit nichts mehr zahlen würde, bereitete mir kein schlechtes Gewissen: Das System, das seinen durchaus signifikanten Teil dazu beigetragen hatte, mein Leben als Forscher zu zerstören, würde schon für die Ausbildung der beiden aufkommen, sollte dies nötig sein. Zudem hatte meine Ex–Frau, die auch ihren durchaus signifikanten Teil zur Zerstörung meiner Karriere beigetragen hatte, genug Geld, den Kindern das Studium zu finanzieren. Sollte ich etwa einem [wenn auch nur „beteiligten“] „Zerstörer“ meiner wesentlichen Essenz zu gefallen auch meine letzte verbliebene Essenz drangeben? – Um auf das Gespräch mit Hubert zurückzukommen: ich ergänzte:) „Außerdem würde ich damit unnötige Konflikte in mir riskieren. Und ich möchte mich konfliktfrei dem Seglerdasein widmen.“

Hubert lächelte nicht mehr. Er schüttelte den Kopf und sagte:

„Meinst du nicht, du siehst das ein bisschen eng? Das Leben hat doch so viel zu bieten. Du könntest dich an anderen Dingen orientieren und so eine neue Sinngebung finden.“

Ich lächelte (vermutlich nachsichtig) und erklärte, mich sammelnd, mich aber auch „vergessend“:

„Es geht um das für mich Essentielle. Oder genauer: mein letztes Essentielles. Und zu deinem Vorschlag: Nicht alles passt zu jedem Leben. Bin ich ehrlich zu mir, kann ich nur sagen: zu meinem passt ausschließlich ein Beruf, den ich ernstnehmen kann. Der macht mich aus! Der definiert mich! Und wenn ich mich um die Möglichkeit gebracht habe, einen solchen zu leben, habe ich mein Leben zerstört. Soll ich mich hierüber hinwegtrösten? Mich, um mich abzulenken, irgendwelchen zeittotschlagenden Gesellschaftsspielchen hingeben? Nett beieinandersitzen und sich angeregt unterhalten vielleicht? Oder meiner Putzfrau die abermillionste Interpretation der Monalisa klugscheißern? Mich als Einäugiger hochherrschaftlich vor blinden Bettlern aufblasen? Als Hausarzt mahnefingerzeigend Korinthen kacken, die ich noch nicht mal selbst gefressen hab? Nicht mehr, inzwischen?“ Hubert sah mich groß an. Und ich schloss, mich auf das mir an dieser Stelle wesentlich Erscheinende konzentrierend: „Nein. Das wäre mir zu hohl. Nein, nein, nein! Alles, was in die von dir angeregte Richtung ginge, hieße nichts anderes, als mir in die eigene Tasche zu lügen. Und das mag ich nicht.“

„Verstehe“, schnaufte Hubert, presste die Lippen zusammen und drückte seine Zigarette in seiner Eierschale aus.

Ich wandte mich meinem Ei zu, das ich noch gar nicht ausgelöffelt hatte. Merkwürdigerweise schmeckte es nach wenigen Bissen nicht mehr. Ich legte den Löffel zur Seite und schaute aus dem Fenster. Draußen flog eine Amsel durch den Garten. Sie wollte sich auf einen Busch setzen, schien aber nicht richtig Halt zu finden und flatterte weiter.

Dumme Vögel!, dachte ich.

Ich musste schlucken, obwohl ich nichts mehr im Mund hatte, und wandte mich an Hubert:

„Ich glaube, ich geh mal besser. Sonst wird’s zu spät.“

Hubert nickte und sagte:

„Ja, ich glaub, du musst los.“

Auch ich nickte und stand auf.

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