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Leseprobe aus „tornissinrot“ – Szene 55 und 56


55 BEI DEN WURZELN


Dahn, Freitag, 3. September 2010

Sinrot war früh am Abend angekommen. Er parkte den Wagen vor dem Haus seiner Eltern, einem mit hellgrauem Rauputz verputzten zweistöckigen Gebäude aus den Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Vorgarten war zubetoniert und diente als Abstellfläche für die Wagen von Gästen. (Herr Sinrot Senior mochte es nicht, wenn das Trottoir mit Autos zugestellt war, denn das sehe ja aus, als hätte er eine Horde Zigeuner vorm Haus marodieren. „Campieren“, hatte ihn Sinrot seinerzeit verbessert.)

Sinrot stieg aus und klingelte. Seine Mutter machte auf. Sie war in eine weiße Küchenschürze gekleidet, hatte das graue Haar hochgesteckt und mit einer schlichten weißen Haube geschützt. In dieser Aufmachung erinnerte sie an die Oberschwester eines Feldlazaretts (das rote Kreuz auf der Haube und die Dienstgradabzeichen auf den Schultern fehlten lediglich). Sinrot schien von diesem Anblick nicht überrascht zu sein, aber er hatte während seiner Jugend genug Zeit gehabt, sich mit dem klinisch Reinen vertraut zu machen, diesem zu vertrauen, dieses als gegeben zu verstehen. Die beiden begrüßten sich:

„Hallo. Schön dich zu sehn.“

„Hallo. Schön dich zu sehn.“

Er trat ein.

„Vater sitzt schon am Tisch. Das Essen ist gerade fertig geworden.“

„Gut.“

Frau Sinrot schloss die Tür hinter ihrem Sohn. Er legte seinen Sommermantel an der Garderobe ab (kopfschüttelnd richtete sie diesen auf dem Kleiderbügel nach, denn er hatte eine Falte geworfen) und ging in das Esszimmer, das durch einen drei Meter messenden rechteckigen Durchlass mit dem Wohnzimmer verbunden war. Die Ledersohlen seiner schwarzen Schuhe verursachten ein hallendes Klacken auf dem weiß gefliesten Boden. Es roch nach scharfen Putzmitteln. Die Räumlichkeiten waren weitläufig, hell und karg, die Einrichtung, Holzfurniermöbel aus den Fünfzigerjahren, wirkte sauber, übersichtlich und steril.

„Guten Abend, Egon“, begrüßte Sinrot seinen Vater.

„Guten Abend, Gerhard“, begrüßte Sinrot Senior seinen Sohn.

Sinrots Vater saß am Kopfende des vier Meter langen Esszimmertischs. Sinrot setzte sich seinem Vater gegenüber. Sie starrten einander mit ausdrucksloser Miene an. Aus der Distanz hätte man die zwei verwechseln können. Der gleiche kraftvolle, selbstbewusste Habitus, die gleichen hochmütig geschwungenen Lippen, die gleichen bohrenden, graublauen Augen. Sinrot Senior hatte allerdings, im Gegensatz zu Sinrot Junior, einige Falten im Gesicht, dort keine Narbe, und seine Haare waren grau durchsetzt.

Die beiden mochten sich nicht, woran sie sich jedoch nicht störten, denn diese Emotionslage stellte keine Besonderheit für sie dar. Sie mochten eben niemanden. Aber sie respektierten einander. Und sie empfanden die Basis ihres Verhältnisses angemessen: Sie war sachlich und kooperativ.

„Was macht die Bank?“, eröffnete Sinrot Senior die Konversation.

„Läuft hervorragend, wie immer. Danke der Nachfrage.“

„Bitte.“

„Und bei dir?“

„Alles zum Besten, wie immer. Danke der Nachfrage.“

„Bitte.“

Frau Sinrot betrat mit einer Schüssel Pfannkuchensuppe auf einem Tablett den Raum (diese hatte sie als Vorspeise, Leberknödel mit Sauerkraut als Hauptgang bereitet).

„Die Knödel bring ich gleich“, sagte sie. (Eigentlich war diese Erläuterung überflüssig gewesen, da Frau Sinrot den Hauptgang grundsätzlich solange in der Küche ließ, bis die Vorspeise abgetragen werden konnte. Frau Sinrot mochte es nicht, wenn der Tisch zugestellt war. Das sehe doch aus wie bei Hempels ...)

Sie stellte die Schüssel unter einem kaum wahrnehmbaren hohen Schaben exakt in der Mitte des Tisches ab und setzte sich. Man bediente sich und die Sinrots begannen mit dem Essen. Ein jeder konzentrierte sich auf seinen Teller. Gelegentlich huschten Blicke aneinander vorbei. Als Kind hatte Sinrot die unerbittliche Stille bei der Mahlzeit mit den Eltern beengend empfunden. Wie in einer modrigen Gruft eingemauert habe er sich gefühlt. Als Erwachsener hingegen mochte er diese Stimmung, denn das Klirren der an die Teller schlagenden Löffel habe etwas von Schönberg, etwas Mystisch–Getragenes, wie aus einer besseren Welt, etwas Reines, ja, Pures, speziell, weil die hochfrequenten Töne des edlen Geschirrs nicht von unsauberen Frequenzgemischen – von Stimmen! – gestört würden.

Nachdem Sinrot Senior seine Suppe aufgegessen hatte, legte er behutsam den Löffel in den Teller, sah zu Sinrot hinüber, nahm seine Serviette und putzte sich bedachtsam den Mund ab. Dann faltete er sie sorgfältig zusammen, legte sie neben den Teller, und fragte seinen Sohn, diesen mit einem Gesichtsausdruck ansehend, als wollte er sich nach dem Wetter im Rhein–Main–Raum erkundigen:

„Wie ist das eigentlich mit Emma passiert?“

„Hatte es ja schon umrissen“, sagte Sinrot, lautlos seinen Löffel in den inzwischen geleerten Teller legend, „Sie war mit ihrem Liebhaber auf dessen Boot in Dänemark und das Boot ist in die Luft geflogen.“ Die beiden sahen einander still an. Ruhig ergänzte Sinrot, denn es erschien ihm füglich, diesen Sachverhalt der Vollständigkeit halber zu ergänzen: „Eine Gasexplosion, wie es aussieht.“

„Das kann gut sein“, empfand auch Sinrot Senior die Erwähnung dieses Sachverhalts als fügliche, ja, sinnvolle Ergänzung, und er fuhr interessiert nickend fort: „Ich hab mal irgendwo gelesen, dass Gasexplosionen zu den Hauptursachen bei Unfällen auf Freizeitbooten gehören.“

Sinrot neigte seinen Kopf zur Seite und bestätigte sacht nickend, so, als erinnere er sich schon, wenn auch nur vage:

„Das habe ich auch.“

Er faltete konzentriert seine Serviette zusammen und platzierte sie gelassen neben seinem Teller. Frau Sinrot hatte das Gespräch, wie es schien, teilnahmslos verfolgt. Sie stand auf und brachte die Suppenschüssel nach draußen. Sinrot Senior fuhr fort:

„Wusste gar nicht, dass Emma einen Liebhaber hatte.“

Sinrot hob gleichgültig die Brauen und sagte:

„Das wusste ich auch nicht, bis zu dieser Sache.“

Sinrot Senior lächelte und meinte:

„Gut, diese Misslichkeit im Zusammenhang mit dem Unfall erfahren zu haben. Das lindert den Schmerz über den Verlust.“

„So ist es!“, lächelte auch Sinrot.

Frau Sinrot war mit einem Tablett zurück gekommen, auf dem zwei Schüsseln standen, eine mit Leberknödeln, eine mit Sauerkraut. Sie stellte das Tablett geräuschlos auf einem mit Rollen versehenen Beistelltisch ab, der an der Wand stand, und schob ihn bis auf sechzehn Zentimeter an den Esszimmertisch heran. Sie korrigierte die Position des Beistelltischs, sodass dessen Längsseite parallel zur Längsseite des Esszimmertischs orientiert war. Dann platzierte sie die Schüsseln zur medianen Querachse des Esszimmertischs jeweils in gleichem Abstand paramedian, und zwar präzise in dessen medianer Längsachse. Frau Sinrot setzte sich.

„So, bedient euch!“, eröffnete sie den Hauptgang.

Nach einer Weile fragte sie Sinrot:

„Und dieser Liebhaber ist auch tot?“

„Ja“, antwortete er, überrascht, dass seine Mutter die heilige Stille des Essens unterbrochen hatte, derartiges sei er nicht gewohnt, beileibe nicht!

„Schrecklich!“, kommentierte sie diesen Umstand, diese Tode.

„Sicherlich“, zeigte Sinrot Verständnis.

„Bei derartigen Vorkommnissen muss ich immer an Rainer denken.“

„Das verstehe ich“, sagte Sinrot, wiederum verständnisvoll, und er verbalisierte sein Verständnis: „Unfall assoziiert mit Unfall.“

Rainer, Sinrots Zwillingsbruder, hatte sich mit dreizehn Jahren das Genick gebrochen, als er am Jungfernsprung, einer bewaldeten Bergformation in Dahn, eine steile Felswand hinuntergestürzt war.

„Wenigstens habe ich dich noch!“, beugte sie sich zu ihrem Sohn, und legte ihm ihre Rechte auf die Linke.

Sinrot zog seine Hand zurück. Er mochte solche Zeichen der Nähe nicht, fühlte sich dann regelrecht unwohl. Sinrots Vater schaute ernst und sagte:

„Was wohl aus Rainer geworden wäre?“

„Physiker, schätze ich“, antwortete Sinrot.

„Vermute ich auch.“

Die drei setzten schweigend ihr Mahl fort.


56 „BRUDER“


Dahn, November 1972

Obwohl Zwillinge und sich vom Äußeren her wie ein Ei dem anderen gleichend, waren die Brüder Sinrot ungleiche Brüder. Rainer war lebhaft, liebte es zu kicken, zu klettern, Mädchen die Röcke hochzuheben, während Gerhard schon mit seinen dreizehn Jahren eher vergeistigt war. So malte Gerhard gerne, konnte sich für Stunden in der Bibliothek des Vaters in Werke der Weltliteratur vertiefen, und war fasziniert von klassischer Musik. Ob dieser Gegensätze verwunderte es wenig, dass sich Gerhard und Rainer nicht besonders verstanden, sogar oft miteinander stritten. Wie zuletzt, als Rainer dem Vater verraten hatte, der Gerhard habe mit dem Kaninchen die „Qualen des Tantalos“ nachgestellt und es dabei beinahe ersäuft. Gerhard hatte daraufhin eine Woche Hausarrest bekommen. Er hatte sich sehr über Rainer geärgert, denn er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, „verpetzt“ zu werden.

An diesem Tag war der Hausarrest abgelaufen (Wie eine Kerkerhaft in Halsgeige und Fußeisen bei Haferschleim und Madengrütze sei ihm diese Woche vorgekommen! Noch nicht mal seine Bücher habe er lesen dürfen!): Gerhard wurde in die Freiheit entlassen. Er und Rainer schienen sich wieder zu vertragen. Gerade hatten sie ihre Übungsaufgaben erledigt (der Vater achtete darauf, dass die beiden stets gut für die Schule vorbereitet waren, und dies schloss Übungsaufgaben auch an Sonntagen, wie diesem, ein). Jetzt wollten sie nach draußen gehen, um zu spielen.

Es hatte geregnet, war kühl und grau. Rainer und Gerhard schlenderten gelangweilt die Straße hinunter. Sie wussten nicht so recht, was sie mit sich anfangen sollten. Auf einmal sagte Gerhard:

„Solln wir am Jungfernsprung klettern?“

„Das wundert mich aber!“, drehte sich Rainer zu ihm um und hob die rechte Braue zweifelnd, „Du Kröte und klettern? Na, von mir aus gerne.“

Gerhard lächelte. Er schien zufrieden. Die beiden machten sich auf den Weg zum Jungfernsprung.

Der Wald am Jungfernsprung, ein Mischwald, wirkte düster. Es roch nach feuchtem Moos und modrigem Laub, nach der herbstlichen Zersetzung eines viel zu langen Sommers. Auf Brusthöhe zwischen den Bäumen hingen zarte Nebelfetzen wie der zerrissene Schleier einer vergewaltigten Waldfee. Als die beiden Jungen an einem fünfzehn Meter hohen Felsen, der steil wie eine Wand emporragte, vorbeikamen, fragte Rainer gackernd:

„Na, du Waschlappen, traust du dich hier hoch?“

Den „Waschlappen“ ignorierend schaute Gerhard die Felswand nach oben. Sie war sieben Meter breit (Gerhard zählte nach: eins, zwei, ...), stieg senkrecht auf und hatte kaum Vorsprünge, an denen man sich hätte festhalten können. Lediglich eine breite, sich durch die gesamte Wand schräg nach oben ziehende Spalte versprach einen einigermaßen sicheren Aufstieg. Nachdem er die Spalte sorgfältig gemustert hatte, wandte er sich seinem Bruder zu und sagte:

„Ja.“

„Das möcht ich sehen!“, feixte Rainer, und rieb sich die Hände.

Gerhard stieg in die Spalte ein, presste sich mit dem Rücken gegen die eine Seite der Spaltenwand und mit Händen und Knien gegen die andere. Langsam arbeitete er sich nach oben. Als er die halbe Höhe der Wand erreicht hatte, lästerte Rainer:

„Du siehst aus wie ein Käfer! Sokann das ja jeder!“

„Es ging darum, hier hoch zu kommen, du Wichser!“, keuchte Gerhard.

„Ach, hab dich nicht so!“, winkte Rainer ab.

Nach Minuten hatte Gerhard es geschafft. Er zerrte sich über die letzte Kante und war stolz auf sich, speziell, weil er nicht gerne kletterte. Oben stellte er sich an den Abgrund, beugte sich, keuchend die Hände auf den Knien, vor, und rief zu Rainer hinunter:

„So, jetzt du, du ‚Künstler‘!“

„Kein Problem“, gab Rainer sich lässig.

Er verwendete eine andere, eine elegantere Technik des Aufstiegs, indem er sich wie ein Spinnenwesen an den wenigen Vorsprüngen und Lücken der Steilwand nach oben hangelte. Oben keuchte er allerdings auch. Er zog sich in einem eleganten Schwung über die letzte Klippe, stand auf, streckte sich und meinte:

So geht das, ‚Gerd‘! Und jetzt lass uns weitergehen.“

Gerhard hasste es, wenn man ihn Gerd nannte, schon von Kindesbeinen an hatte er es gehasst. Wie ein wütender Jungstier schnaubte er durch die geblähten Nüstern. Kulant lächelnd klopfte Rainer ihm auf die Schulter und schickte sich an, ihn zu passieren. Noch schnaubend drehte Gerhard sich, ihn zu begleiten, um, doch aus irgendeinem Grund, er verstand es selbst nicht, ließ er sich in der Drehung leicht zur Seite schwanken – als stolperte er, als hätte er das Gleichgewicht verloren – und verpasste seinem Bruder so einen kräftigen Stoß mit der Schulter. Rainer wankte, strauchelte, rutschte – die Augen aufgerissen – den Abgrund hinunter, konnte sich aber im letzten Moment – die Luft schlug es ihm dabei aus den Lungen – an der obersten Kante der Felswand festhalten.

Er hing im steilsten Stück der Wand, da, wo es keine Vorsprünge gab, in denen seine konfus paddelnden Füße hätten Halt finden können. Gerhard hatte sich erschrocken, fühlte einen Sog, wie ein kratzendes Vakuum, im Hals.

Was hatte er getan?

Schnell beugte er sich hinunter zu seinem Bruder, der blass die Luft einsaugte, und wollte ihm die Hand reichen, doch der fauchte einem wütenden Dachs gleich:

„Mach schon, helf mir hier hoch, du Idiot!“

Gerhard stockte, richtete sich wieder auf und betrachtete das wutverzerrte Gesicht seines Bruders. Gerhards Miene war ruhig, lediglich den Hauch eines Angewidertseins verschimmernd. Einen Moment herrschte Stille. Vollkommene Stille. Das Zwitschern der Vögel hatte aufgehört. Rainers Finger klammerten sich an den Felsen, versuchten verzweifelt, sich an das Leben festzuschaben, sich in es hineinzukratzen. Auf einmal stemmte Gerhard die Fäuste in die Hüften, hob die rechte Braue, und lächelte Rainer aufgeschlossen an:

„Warum, eigentlich“, sagte Gerhard besonnen, „sollte ich dir helfen? Was hätte ich davon, ‚Bruder‘?“

Rainers Miene verfinsterte sich. Gerhard schüttelte den Kopf und trat mit dem rechten Fuß in den Boden, sodass Rainer Moos und Erde ins Gesicht spritzten. Rainer spuckte Dreck, kniff die Augen zusammen, zuckte mit der Hand – und stürzte.

Man hörte etwas aufschlagen, aber keinen Schrei. Ohne Ausdruck im Gesicht tat Gerhard vorsichtig einen Schritt auf den Abgrund zu und beugte sich Stückchen für Stückchen nach vorne, bis er in der Tiefe – erst die Schuhe, dann die Beine – Rainers leblosen Körper sah. Gerhard wusste sofort, dass Rainer tot war, und sofort wusste er auch, dass er sich nicht freuen durfte. Wie gerne hätte er seine Fäuste jauchzend in den Himmel geschossen, sich von ihnen tanzend durch den Wald rotieren lassen, wie ein Kreisel, wie ein Freudenkreisel, endlich frei und tanzend sich durch den Wald wirbeln lassen. Aber er wusste, dass er sich nicht freuen durfte. Sofort hatte er es gewusst. So verbarg er hinter ekstatisch rüttelnden Fäuste sein zähnefletschendes Grinsen. Bis er sich nach einer Zeit gefangen hatte. Starr schaute er nun in die Tiefe. Ihm schwindelte nicht. Es war ihm, als ob er aus dem Abgrund den Brodem der Befreiung in sich hineinhauchen spürte.

Er musste den Eltern Bescheid sagen, überlegte er.

Gerhard atmete tief und erleichtert aus und begab sich auf den Weg nachhause.

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