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Leseprobe aus "tornissinrot" - Szene 50

50 EIGENESSENZ


Börnheim–Anwesen, zweite und dritte Augustwoche 2010

Tornis hatte sich unterdessen in seinem vorübergehenden Heim eingerichtet. Noch am Abend des Einzugs hatte ihn Sinrot mit Lebensmitteln und neuen Malutensilien versorgt. (Sinrot gedachte, diese später für sich zu nutzen, wenn er es denn endlich einmal zuwege brächte, selbst mit der Malerei anzufangen.) Tornis konnte sich also schnell wieder seiner Leidenschaft widmen und seine künstlerische Entwicklung vorantreiben, sie gleichsam Stück für Stück die Hänge des Olymps der Bildenden Künste hochtreiben, hochhetzen, sie hochprügeln, wenn es denn sein müsse, bis er sein Ziel erreicht habe: Den Gipfel seines Könnens. Den Gipfel seines Wirkens. – Den Gipfel seines Seins!

Nach dem Einzug in das Börnheim–Anwesen hatte es allerdings zwei Tage gedauert, bis er sich für sein neues Atelier hatte entscheiden können: Der Raum im Turm war schön, bot eine inspirierende Aussicht auf die Wiese, wirkte indes auf Dauer beengend. Das Wohnzimmer hingegen war geräumig und seine Fensterwand blickte auf die Terrasse, die jedoch im Schatten des Waldes lag. Die Lichtverhältnisse waren also nicht optimal. Die des Turmzimmers derweilen auch nicht, da das Fenster nicht so groß war, wie es von außen schien, und es nach Norden wies. Nach einigem hin und her hatte er sich schließlich für das Wohnzimmer entschieden.

Er würde häufig nächtens malen und tendierte ohnehin mehr und mehr zu Halogenbeleuchtung, die er ja auch tagsüber anschalten konnte. Außerdem hatten die vormaligen Bewohner diese ledernen Ohrensessel und einen schweren, niedrigen Eichentisch im Wohnraum belassen. Dann könnte er dort seine Mahlzeiten zu sich nehmen, dabei seine Bilder betrachten, und der „Camus“ stünde im Wandschrank dieses Raums nur einen Griff weit entfernt!

Tornis genoss es, nun ungestört malen zu können. Diese Abgeschiedenheit und Idylle bewirkten exakt, was er sich erhofft habe, und er fühle, dass sie seine Kreativität fruchtbar nährten. In raren Momenten erschien es ihm zwar ein wenig monoton, immer das gleiche zu tun, und die Bank vermisse er gelegentlich auch und er ärgere sich schon hin und wieder, dass sein Alter–Ego sich dort vergnügen, gewichtige Dinge bewegen, ach, ganze Konzerne stürzen lassen könne, es schlicht eine Aufgabe habe, die einen Unterschied mache auf dieser Welt, während er hier wie ein lepröser Papstsohn weitab jeder Zivilisation in einer Unterholzkabuse darbe! Aber, so tröstete er sich, würde er nun endlich die Seite in sich pflegen – und das müsse er sich einfach immer wieder vor Augen führen! –, die er viel zu lange vernachlässigt habe: Seine kreative Seite. Richtig, nun könne er sie bearbeiten, pflügen und besäen, wie einen Acker, der seit Äonen schwarzbrach gelegen habe, und sie und sich – zu guter Letzt! – ohne all die Zwänge des Alltags verwirklichen und erblühen lassen! Und das sei nicht bloß gut, das tue auch gut!

Und überraschte ihn auch. Mehrfach. In einer Weise, die nicht nur sein Schaffen betreffen würde. Doch betrachten wir zunächst dieses. Es begann mit einer womöglich abstrusen Idee: Vom Wunsch besessen, Frau Otto irgendwann zu malen, hatte er schon in Sasbachwalden gegrübelt, wie er das Rot ihrer Haare vermitteln könne, ohne die mit seinem Werk untrennbar verbundene Farbenwelt – Schwarz, Blau, Weiß – zu unterminieren, das Rot also unverwechselbar als solches auszudrücken, ohne es zu verwenden. Jetzt, in dieser inspirierenden Ruhe, hatte er die problemlösende Eingebung, indem er es nämlich – wie er es formulierte – mit einem schlicht genialen, assoziationsdirigierenden Kunstgriff versuchte.

Glücklicherweise hatte er ein Passfoto seiner verstorbenen Frau in der Geldbörse (Anna und Emma seien sich ja derart ähnlich, dass es Emma für dieses Experiment, diese Pilotstudie quasi, auch tun würde), denn er benötigte für diese eine Vorlage, dürfe doch die Konzentration auf die Farbvermittlung nicht durch das Ringen um die Authentizität des Antlitzes gestört werden. Der Kunstgriff bestand nun darin, dass er Frau Sinrots Kopf – stellvertretend für Anna und abgetrennt, doch ansonsten in natürlicher Schönheit belassen – auf einer Lanze aufgespießt darstellte, an der aus dem Hals heraus in „zölestischem“ Blau wiedergegebenes Blut herablief und sich am Boden in einer zölestisch–blauen Blutpfütze sammelte, aus welcher einer Glyzine gleich die Haare – in zölestischem Blau! – nach oben und dann in den Kopf hineinwuchsen, ja, –wucherten. Mit dem Ergebnis war Tornis zufrieden:

Gelungen, die Assoziation! Das musste doch ein Blinder mit einem Krückstock sehen beziehungsweise begreifen können, dass das eigentlich Rot war, dieses zölestische Blau! Und stellte er dieses Werk an den Anfang einer ganzen Serie mit Anna, würde sich die Assoziation des Konzeptes Rot durch jedes weitere Werk des Zyklus hindurchinfiltrieren.Neben tiefer Zufriedenheit über den gelungenen „assoziationsdirigierenden“ wie „–infiltrierenden Kunstgriff“ erfasste Tornis beim Betrachten des Bildes allerdings ein sonderbares „Spüren“: Wahnsinn! Diese Emma so auszeichnende Mischung aus hakender Gier und kratzender Abneigung kam ja hundertprozentig zum Ausdruck in dem Gemälde. Mehr! Geradezu spüren konnte er sie, all ihre Abneigung, all ihre Gier, als stünde sie direkt vor ihm, die leibhaftige ... Emma. Wirklich irre, dieses Spüren! Als sähe man den Kaffee nicht nur dampfen, sondern verbrannte sich auch noch die Zunge an ihm!

Tornis wunderte sich insbesondere, weil er dieses Spürendieses unmittelbare, dieses leibhaftige Spüren!– in seinem bisherigen Werk noch nicht empfunden hatte. In diesen Gemälden, er denke hier zum Beispiel an den „Untergang der Titanic“, habe er den Affektstatus der abgebildeten Personen zwar eindeutig erkennen können – im Falle dieses Werkes das Verzweifelte in den Gesichtern der Ertrinkenden –, aber er habe den Affekt nicht als leibhaftig erlebt empfunden, nicht gespürt also. Tornis war von dieser Erfahrung des Spürens derart beeindruckt, dass er sich stundenlang den Kopf zermarterte, woran es denn gelegen haben könnte, dieses Spüren, bis er schließlich an der Vermutung arrivierte, er habe hier womöglich eine besondere Stärke seines Ausdruckspotentials entdeckt, und zwar eine, die im Portrait liege!

Sofort wollte Tornis diese Vermutung an einem anderen Portrait überprüfen und – wiederum – glücklicherweise hatte Sinrot bei seinem letzten Besuch die neueste Ausgabe der „RTO–Schau“, eines monatlich erscheinenden, hausinternen Magazins der „RTO–Bank“, mitgebracht (Sinrot hatte Tornis ein wenig über die Bank auf dem Laufenden halten wollen, ein netter Zug im Grunde). So konnte sich Tornis gleich an Herrn Pechthold – diesem Vorgartenzwerg!– versuchen, der in dieser Ausgabe der „RTO–Schau“ als Mitarbeiter des Monats vorgestellt wurde. Schon nach einer Stunde – für diesen simplen Nusskopf benötige er nur einige vage Striche! – hatte Tornis das Portrait fertiggestellt und konnte sich erneut von jener neuen Wirkung seiner Malerei überzeugen: Eindeutig spüre er Pechtholds klebrig–ranzige Angst, ja, er erkenne sie nicht nur, er spüre sie auch, als kröche ihm dieser ranzige Angstwurm hier gerade leibhaftig von der Leinwand über die Hand! Tornis schüttelte angewidert seine Arme aus und überlegte:

Hatte er etwa seine Fähigkeiten im Portraitmalen auf derartige Höhen getrieben, dass er nun diese Intensität des Ausdrucks erreicht hatte? War er nun dazu in der Lage, eine Intensität, wie man sie sonst nur „in vivo“ empfindet, „in vitro“ oder genauer „in oleo“ auf den Canvas zaubern zu können? Das musste er verifizieren! Und dies an etwas wahrlich Großem, etwas, das zu spüren sich lohnte!

Selbstredend hatte Tornis sich nicht eine Sekunde damit quälen müssen zu finden, was es denn sein könne, dieses „wahrlich Große“. Vor ihm stehe es doch jeden Morgen! – Wenn er in den Spiegel schaue, sich an sich selbst entzücke!

Tornis machte sich sofort daran – den Badezimmerspiegel hatte er hierfür eilig abmontiert und vor die Staffelei gestellt –, ein großflächiges Portrait seiner selbst zu erschaffen. Mit dem letzten Pinselstrich trat er beseelt zurück und betrachtete erwartungsvoll sein neues Werk. Doch außer dem, was er auch sonst in seinen Werken erkannte – jene geniale Farb– und Formenwelt! – konnte er nichts in seinem Selbstportrait erkennen, und schon gar nichts spüren. Tornis‘ Züge schienen in einer ernüchterten Erschlaffung zu verschwimmen, so, wie das in den Sand gemalte Herz der Liebenden in einer sanft über den Strand spülenden Welle verschwamm. Amimisch und mental verspült stand Tornis – nicht nur vor seinem Bild, sondern auch – vor einem Rätsel. Warum könne er beim Bildnis seiner selbst nichts spüren, wenn ihm dies bei Gnomen wie Emma und Pechthold gelinge?

Tornis wäre der Beantwortung dieser Frage vermutlich nicht so schnell nähergekommen, wie er ihr nun näherkommen sollte, hätte er nicht just an diesem Tag, dem 14. August, Besuch von seinem Doppel erhalten (Sinrot hatte ihm einige Lebensmittel bringen wollen). Denn als die beiden zum Ausklang des Tages einen „Camus“ auf der Terrasse genossen, fiel es Tornis auf einmal – entspannt sein Gegenüber betrachtend – wie Schuppen von den Augen:

Es da vor ihm war ja wie ein Portrait seiner selbst! Genau! Sein Alter–Ego zu betrachten kam, was das Spüren anging, der Betrachtung seines Portraits gleich!

Ja, er erkenne das Vollkommene an seinem Gegenüber, wie er es auch an sich selbst erkennen würde, was nicht verwundere, weil er nun einmal ... Aber er spüre nichts! Wie eine unsichtbare Wand stehe da etwas zwischen ihm und seinem Spüren! Habe er etwa ein Problem damit, sich selbst zu spüren? Und wesentlicher: Gehe dieses Problem gar so weit, dass er die Essenz dessen, was er mit seinen Bildern – seiner Kunst! – vermitteln wolle, nicht spürbar machen könne, weil er dazu sich selbst spürbar machen müsse?! Könne er also gerade die Essenz, um die es ihm gehe, die Essenz des Eigenen, nicht spürbar vermitteln, die des Fremden hingegen schon? Sei er somit in seinem aufopferungsvollen Kampf als Künstler, der Menschheit wahrlich Wahres, wahrlich Großes – sich selbst eben! – zu geben, von vorneherein zum Scheitern verurteilt?

Tornis „verspürte“ einen Moment verzweifelter Erregung – müsse er sich denn erst ein Ohr abschneiden, um zu spüren! –, doch als vernünftiger Mensch konnte er sich schnell mit der nüchternen Betrachtung der Realität, seiner Realität, beruhigen: Eindeutig könne er konstatieren, dass die Fähigkeit zur Spürbarmachung der Fremdessenz, über die er nachweislich verfüge, seiner Unfähigkeit zur Spürbarmachung der Eigenessenz gegenüberstehe, dies aber nur im Moment so sein müsse, er dies also zum Positiven wenden könne. Denn grundsätzlich besitze er sie ja schon, die Fähigkeit, eine Essenz spürbar zu machen, wie durch die Porträts der Gnomen belegt! Folglich gehe es darum, diese Fähigkeit auf die Essenz des Eigenen auszuweiten! Und noch während die beiden, Tornis und Sinrot, ihr zweites und für diesen Abend letztes Glas „Camus“ schlürften, hatte Tornis die Eingebung, wie der Mangel im Darstellen der Eigenessenz wettzumachen sei: Indem er die Darstellung der Eigenessenz stimuliere durch das gleichzeitige Darstellen der Fremdessenz! Sicherlich sei dieser Ansatz ein konzeptionell gewagter Sprung, aber so seien sie nun einmal, die genialen Eingebungen, diese bahnbrechenden Geistesblitze, die – und nur die! – wirklich Großes zu bewegen imstande seien: Für ein gewöhnliches, blasses Lichtlein nimmermehr nachvollziehbar, doch für den berufenen, erhabenen Geist in ihrer Tragweite und Brillanz sofort zu erkennen!

Noch in derselben Nacht, unmittelbar, nachdem Sinrot gegangen war, begab sich Tornis daran, seine „geniale Eingebung“ in die Tat umzusetzen, seine „Eigenessenzstimulierungshypothese“ zu überprüfen. Herhalten für den Versuch musste wiederum eine Fotografie – er wusste gar nicht, warum er das Ding einstecken hatte, aber jetzt kam es ihm gelegen!–, und zwar von der Goldenen Hochzeit seiner Eltern. Das Foto zeigte ihn zusammen mit seiner Frau bei dieser Festlichkeit und ermögliche es somit, dass er über die Darstellung der Fremdessenz – im Abbilden seiner Frau– die Darstellung der Eigenessenz – im gleichzeitigen Portrait von sich selbst– stimuliere und dadurch spürbar mache. Auch sei die Fotografie in Sachen Spüren ideal geeignet, weil er, Tornis, zu diesem Anlass mit Sicherheit „gespürt“ habe, und zwar einen unsagbaren Widerwillen gegen dieses Kasperletheater „Goldene Hochzeit“, und weil auch Emma „gespürt“ habe (daran erinnere er sich genau!), nämlich einen quälenden Harndrang. Um die Stimulierungshypothese wirklich gründlich zu überprüfen und in einer Weise, die ihn ihre Mechanik verstehen lasse, wollte Tornis systematisch, ja, wie ein Wissenschaftler vorgehen, der jeden Faktor der zu prüfenden Kausalkette isoliere und unter Konstanthaltung der anderen Faktoren messe.

Strikt „wissenschaftlich“ vorgehend deckte Tornis zunächst die Hälfte des Fotos zu, die Frau Sinrot zeigte, und malte nur die andere, also sich selbst. Und als er sein fertiges Selbstportrait betrachtete –, spürte er nichts, und präzise dies sei ja nach seiner Vermutung auch zu erwarten gewesen. Nach diesem ersten Teil der Probe benutzte Tornis nun das ganze Foto als Vorlage für ein neues Portrait, eben diesmal eines, das ihn zusammen mit seiner Frau zeigte. Und siehe da, als er mit dem Bild fertig war, erwartungsvoll einen Schritt zurücktrat und es gespannt betrachtete, spürte er neben der drängenden Ungeduld seiner Frau eindeutig seinen tiefen Widerwillen ... und stürmte auf die Toilette.

Wieder zurück, war er außer sich vor Freude. Ja, so hatte man ihn noch nicht erlebt und man musste sich in der Tat fragen, was denn auf einmal in ihn gefahren sei: Wie ein Wahnsinniger hatte er die Augen aufgerissenen und sprang, die Fäuste jubilierend gen Himmel schleudernd, im Kreise, drehte sich wie ein tanzender Derwisch in atemberaubenden Spiralen durch sein Atelier und formulierte noch während dieses trancegleichen Besessenheitsballetts seine Hypothese zum gerade Erlebten: Emma fungiere als Induktorin der Eigenessenzdarstellung.

Und um diese Hypothese unverzüglich zu testen, machte er sich schleunig an sein nächstes Werk. (Tornis war wie verhext von seiner Idee, sprühte geradezu vor schöpferischem Tatendrang.) Als Motiv diente die „Variation über Verdun“, ein Gemälde, das er vor einigen Tagen vollendet hatte. Mit dem Werk habe er einem, ach, seinem Konzept menschlichen Seins Stimme wie Aufmerksamkeit verschaffen wollen, dass nämlich der Inbegriff des Friedens in der totengleichen Ruhe nach dem Sturm liege. Zu erkennen sei das Konzept eindeutig in diesem penultimativ explosiven wie final ruhestiftenden Einklang, der in dem dargestellten Trümmerfeld zum Ausdruck komme. Aber gespürt habe er seinerzeit, nach der Vollendung dieses Meisterwerks ... eben nichts. Mal sehen, ob sich dies durch Emma, seine „Induktorin“, ändere.

Tornis realisierte sein neues Werk, indem er die eingangs verwendete Fotografie seiner Frau, das Passfoto, an die „Variation über Verdun“ heftete, und beide Bildnisse zusammen abmalte, sozusagen in eine symbiotische Synthese bringe. Mit dem Ergebnis war er gleichwohl nicht zufrieden. Die hakende Gier und kratzende Abneigung in der Miene seiner Frau spüre er wohl in der neuen „Variation über Verdun“, die „Variation“ selbst hingegen vermochte ihm kein Spüren zu entlocken. Stimmte etwa seine Hypothese nicht?

Entnervt setzte sich Tornis in seinen Sessel und überlegte bei „Camus“. Inzwischen graute der Morgen. Sein leerer Blick fiel auf das Gemälde, das ihn mit seiner Frau auf der Goldenen Hochzeit zeigte (es lehnte zum Trocknen an der Wand).

Warum ging es bei diesem blöden Hochzeitsbild, aber nicht bei der synthetisierenden „Variation über Verdun“?, fragte er sich.

Er beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Knie und betrachtete das Bild genauer. Sein Blick strich zwischen dem Abbild Frau Sinrots und dem Ebenbild seiner selbst hin und her. Nach einer Weile fiel ihm auf – hier bewegte sich etwas!–, dass der Widerwille, den er empfunden habe, als man das Foto geschossen habe, und den er jetzt beim Betrachten dieses Gemäldes wieder spüre, sich jedes Mal verstärke, wenn er seinen Fokus auf Emma richte. Als bündelte sie, einer optischen Linse gleich, das Spüren seiner „Eigenessenz“, und zwar in sich! ... Vielleicht durch sie, Emma? Und auf einmal glaubte Tornis zu verstehen:

Emma war nicht der Induktor für die Darstellung der Eigenessenz, sondern das Vehikel!

Mit nahezu entsetztem Blick sprang er aus seinem Sessel auf und starrte in den Raum.

Genau! Durch sie, einer Fähre des Spürens gleich, würde die Eigenessenz des Abgebildeten zum Beobachter getragen! Richtig! Emma nahm die Aura des Abzubildenden auf und kanalisierte sie zu dem, der sie betrachtete, funktionierte also wie eine Schleuse, welche die „in vivo“–Essenz zum Beobachter kanalisierte und dadurch „in oleo“ spürbar machte, oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Emma funktionierte als Vehikel der Essenz! Und damit sich dieses Potential entfalten konnte, musste sie sich leibhaftig in der Aura des zu Kanalisierenden, der Essenz, befinden!

Gedankenverloren stierte Tornis vor sich hin. Sei dies, überlegte er, ein Potential, das nur Emma habe, oder verfügten alle Gnome über diese Macht? Im Grunde müsse es für alle Gnome gelten, denn viel von sich selbst hätten sie ja nicht zu kanalisieren, sonst wären sie schließlich keine Gnome. Stimmt! In Gnomen gebe es so viel Leere, dass genug Platz sei, die Aura des Großen zu transportieren, als Vehikel dieser Aura zu fungieren, womöglich hierdurch überhaupt erst der eigenen Bestimmung gerecht zu werden. Und Tornis war sich nun sicher, begriffen zu haben: Wenn es bei Emma funktioniert habe, müsse es auch bei anderen Gnomen funktionieren. Dann könne er, indem er sich eines Gnoms als Modell bediene, diesen mit seinen eigentlichen Themen assoziieren und diese so spürbar machen! Dies müsse er unbedingt erproben! Tornis tigerte gejagt durch den Raum.

Ja, so müsste es funktionieren. Aber wo, zum Kuckuck, könnte er jetzt einen anderen Gnom herbekommen? – Die „RTO–Schau“!

Tornis war eingefallen, dass in der Ausgabe der „RTO–Schau“, die ihm Sinrot gebracht hatte, auch ein Foto war, das Sinrot zeigte, wie er Herrn Pechthold die Medaille für den „Mitarbeiter des Monats“ überreichte. Sein Alter–Ego sei ja im Grunde er, habe selbstredend seine Aura, und Pechthold sei der Gnom schlechthin, weshalb er seine Vehikel–Hypothese gleich einmal an diesem Foto testen könne.

Da Tornis ohnehin nicht würde schlafen können und auch viel zu exaltiert und alteriert war von seinen Visionen, machte er sich gleich ans Werk. Doch als er das fertige Bild betrachtete, erfasste ihn abgrundtiefe Frustration: Pechtholds ranzig–klebrige Angst spüre er klar. Darüber hinaus spüre er allerdings nichts. Nichts! Nicht den Hauch einer Essenz! Sein Alter–Ego sei absolut spürfrei! Zwar könne man an dessen Miene eindeutig den Widerwillen „erkennen“, mit dem es diesem Nusskopf die Medaille ans Revers hefte. Aber zu spüren sei der Widerwille nicht!

Ernüchtert stellte sich Tornis vor die Terrassentür und betrachtete den Wald. Mittlerweile war er von seiner Vehikel–Hypothese so gefangen, dass er sich nicht mehr von ihr zu lösen vermochte, denn er liege richtig, das wisse er nicht nur, das spüre er auch. Eindeutig aber sei es so, dass sie offensichtlich nur auf Emma zutreffe, auf andere Gnome hingegen nicht! Irgendetwas Besonderes müsse sie also haben, das sie zum Vehikel mache. Matt lehnte er die Stirn an die Scheibe. Seine Gedanken rotierten:

Verflucht! Was sollte er nur machen? Diese Eigenschaft Emmas, dass sie Vehikel – Essenzvehikel! – war, konnte er jetzt nur noch als gewesen erkennen, aber nimmermehr nutzen! Warum musste diese Frau immer nur Schwierigkeiten machen? Warum nur? Warum? Wie herrlich hätte es sein können, mit ihr, als Vehikel! Und vermutlich hätte sie ihm nicht nur als Vehikel für solch simple Impulse wie Widerwillen dienen können. Nein. Durch sie hätte er noch ganz andere Eigenessenzen spürbar machen können. Seine ureigenen Ideen! Seine ureigenen essentiellen, ja, großartigen Konzepte, die er der Menschheit mitzuteilen hatte, die hätte sie ihm spürbar machen können!

Tornis vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Die Stirn lehnte nach wie vor an der Scheibe, der Rücken war von Schmerz gekrümmt. Und leise, ganz leise, wie das ferne Pochen eines gebrochenen Herzens, hörte man ein sich ständig wiederholendes „Warum nur, warum?“ aus der Grube seiner Hände wimmern, so sehr beklagte er den Tod seiner Frau. Doch auf einmal tat die Grube sich auf und Tornis starrte mit glühenden Augen ins Nichts. Eine Weile verstrich, bis er wie im Wachtraum sagte:

„Aber eigentlich hab ich dich doch gar nicht verloren. Nicht für immer. Und nicht richtig! Genau! Anna ist die Lösung!“

Und durch das Zimmer zog Tornis seine Kreise, aufgewühlter als zuvor, doch auch hoffnungsvoller als zuvor, denn dies sei ihm jetzt klar: Anna und Emma! Genau. Die beiden, die ähnelten sich derart, dass auch Anna sie in sich bergen musste, diese Macht! Diese Macht, Vehikel zu sein. Das spürte er nicht nur, das wusste er! Anna hatte sie, die Macht! Also müsste er sich diese zu eigen machen beziehungsweise sich jener widmen!

Nach etlichen Runden auf seinen gehetzten Kreisen blieb Tornis stehen und schaute auf seine Uhr. Inzwischen war es Mittag. Er schüttelte den Kopf und beschloss, erst einmal zu schlafen und nach dem Erwachen gründlich über diese außergewöhnliche Entwicklung nachzudenken, genau zu überlegen, was wie zu tun sei.

Tornis schlief tief und gut. Und als er aufgestanden war, in gewohnter Stärke, überdachte er die Situation kühl und mit Bedacht: Im Grunde habe er keine Zweifel, dass Emma ein Vehikel gewesen sei und Anna eines sein könne. Um aber die nötige Sicherheit zu haben für einen konkreten Plan, wie dieses Phänomen für seine Kunst urbar gemacht werden könne, müsse er noch den Ausgangspunkt der Hypothese, Emmas Potential, beleuchten, und zwar zum einen prüfen, ob das Spürbarmachen seiner Eigenessenz reproduzierbar sei, und zum anderen herausfinden, ob Emma tatsächlich auch sein großes Empfinden spürbar machen könne, und nicht bloß Banalitäten wie Widerwillen. Und wäre dem so – das sei sicher! –, könne auch Anna ihm Vehikel sein.

Tornis rief also Sinrot an, dieser möge ihm doch bitte, wenn er mal wieder zufällig im Börnheim–Anwesen vorbeischaue – und zwar möglichst noch heute! –, das Foto mitbringen, das ihn mit Emma bei seiner Inauguration in der „RTO“ zeige. Er würde es für eine Portraitstudie benötigen. Kein Problem, antwortete Sinrot und überlegte, ob sein Neben–Ich in der Isolation des Börnheim–Anwesens nun mental marode werde. Tornis hatte dieses Foto im Übrigen auserkoren, da er damals die wundervolle Erwartung der kreativen Macht gespürt habe, die ihm die Position in der „RTO–Bank“ verschaffen würde, und er wolle doch mal sehen, ob dies große Spüren sich nicht dank Emma auf die Leinwand vehikulieren ließe.

Ankunft, Übergabe, „Camus“, Abfahrt. Sinrot hatte das Börnheim–Anwesen kaum verlassen, als Tornis – vor Eile fast zitternd – besagtes Foto an den Canvas heftete und wie im Fieber sein neues Werk begann. Er gab sich Mühe, versuchte, all sein Spüren in die Pinselspitze zu legen, es durch diese quasi wie durch eine Impfkanüle auf die Leinwand zu spritzen. – Und mit Erfolg: Als er nach dem letzten Pinselstrich sich durchs Haar gefahren und zwei Schritte zurückgetreten war, um das Opus zu betrachten, konnte er mit Verzücken erkennen, dass er das Erwarten kreativer Macht in reinster Deutlichkeit in seinem Abbild spüre, ja, wie ein kraftvolles elektrisches Feld spüre, das alle Nichtigkeiten in seiner Umgebung lösche, gar so stark strahle, dass es Emmas gefräßige Freude, die sie bei dieser Inauguration beinahe ungeschminkt zur Schau getragen habe, nahezu verdecke.

Doch wenn er jetzt mit Anna Essenzen vehikulieren würde, schoss es ihm unvermittelt in den Kopf,würde er sich kaum immer mit ihr zusammen abfotografieren und dann abmalen wollen. Dies würde ihn nicht entscheidend weiterbringen! Er wollte schließlich seine Konzepte vehikulieren, und zwar v.a. die komplexen und richtungsweisenden, und für die brauchte er Objekte oder Konstellationen, die eben diese Konzepte für ihn repräsentierten! Das lag doch auf der Hand! Wie etwa sollte er sein Konzept, das er mit der „Variation über Verdun“ hatte vermitteln wollen, in einer Darstellung von sich selbst spürbar machen? Indem er sich als Gulasch malte? Nein, das ginge nicht. Dann ginge seine Schönheit flöten. Für komplexe Konzepte brauchte er komplexe Objekte und repräsentative Konstellationen! Und hier stellte sich die Frage: Funktionierte sein Essenzvehikel auch bei einem derart komplex–repräsentativen, ja, abstrakten Ansatz? Dies musste er herausfinden! Und vehikulierte Emma „abstrakt und komplex und repräsentativ“, so bestimmt auch Anna. Aber herausfinden musste er das Grundprinzip zunächst. Doch wie?

Getrieben lief er in seinem Atelier auf und ab, gelegentlich die Fäuste gegen die Schläfen pressend, als wollte er sich die Einsicht herausquetschen aus seinem Gehirn, und überlegte. Fast hätte er in der Hast, die ihn kreuz und quer durchs Zimmer jagte, den Stapel Fotos übersehen, den Sinrot ihm mitgebracht hatte (nachdem Tornis Sinrot wegen des Inaugurationsfotos angerufen hatte, hatte dieser in weiser Voraussicht – was wisse er denn, auf welch spinnerte Portraitideen sein Neben–Ich noch komme, in seiner Eremitage! – den ganzen Stapel Fotos mitgebracht). Doch Tornis übersah den Stapel nicht, stürzte sich auf ihn, durchwühlte ihn und zog mit absoluter Gewissheit das Foto hervor, das zwar nicht ideal, indessen durchaus geeignet sei für den Versuch, abstrakte Konzepte komplex und repräsentativ zu vehikulieren, ohne dass er sich hierbei selbst abzubilden habe: Es zeigte Frau Sinrot – mit elegant überschlagenen Beinen und nonchalant auf den Ellenbogen gestützt – auf der Motorhaube seines „A8s“ liegend, damals, als er ihn sich angeschafft hatte. Tornis hatte Frau Sinrot seinerzeit um diese Pose gebeten, sie hatte ihm widerwillig den Gefallen getan, und der „A8“ hatte frisch poliert geglänzt.

Sofort machte sich Tornis daran, die Fotografie in Öl zu verewigen, und als er den Pinsel zur Seite legte und drei Schritte zurücktrat, um seinen jüngsten Versuch zu begutachten, konnte er in vollster Zufriedenheit feststellen:

Wunderbar! Es funktionierte! Nun konnte er die elegante Formvollendung und das in diesem elysischen Gefährt realisierte Prinzip konzeptioneller Klarheit, das dem seinen doch so ähnlich war, nicht nur erkennen, sondern auch spüren. Und wichtiger: Emma vermochte nicht nur Essenzen seines abgebildeten Ichs zu vehikulieren, sondern über Objekte ebenso die Essenz der Konzepte, die diese Objekte für ihn repräsentierten, sofern er sich denn in einem Raum mit ihr befand.

In den Tagen nach diesem Gemälde – nach dieser epochalen Erkenntnis, bitte schön!– dachte Tornis gründlich über seine Hypothese zum „Eigenessenzvehikel“ nach. Er wurde sich immer sicherer, dass Frau Otto – wie seine verschiedene Frau – als Vehikel seiner Essenz fungieren könnte. Also müsse er sich unbedingt mit Anna treffen und sie „urbar“ machen für dieses Unterfangen. Tornis glaubte, dass er ihre Hilfe nur initial benötigen würde, und zwar, um seine Fähigkeit zur Eigenessenzdarstellung erst zu entwickeln. – Und hätte er diese Fähigkeit gedeihen lassen, würde er das Stadium erreichen, dass er keines Vehikels mehr bedürfte, dass seine Essenz auch ohne fremdes Zutun in seinem Werk erblühen könnte.

Tornis hatte keine Zweifel am Gelingen dieses Plans, gelänge es ihm nur, Anna „urbar“ zu machen, sie zu „überzeugen“, sich dieser prometheischen Mission zu „schenken“! Und gelinge dies, so stünde auch dem Gelingen seines eigentlichen Ziels nichts mehr entgegen: Die letzte Essenz der eigenen Essenz zu vehikulieren! Die Apotheose der Essenz! Den Sinn seines Seins! Sich mit der Linken an der Wand abstützen und wie ein Erstickender den rettenden Atem in die vergehenden Lungen einblähen musste Tornis, als er sich diese Quintessenz der bevorstehenden Mission vor Augen führte. Aber er besann sich gleich, atmete durch, und führte sich auch vor Augen, worauf er denn achten müsse, auf diesem Weg, der da vor ihm liege:

Auf diesem steinigen Weg! Ja, steinig würde er werden. Und bei all den wundervollen Perspektiven durfte er nicht vergessen, welche Notwendigkeiten er auf diesem Weg zu beachten hatte, denn es gab die Einschränkung, dass der Plan nicht die Lösung seines Dopplungsproblems gefährden durfte. Sicher wäre es schön, die angestrebte künstlerische Entwicklung in ihrem gesamten Potential zu implementieren. Ja, dies hatte er erkannt, dass es seine Berufung war, sich selbst und seine Kunst der Welt zu geben, die Welt ein Stückweit reicher zu machen, indem er ihr seine Essenz spürbar vermittelte. Aber – und das musste er anerkennen – konnte dies natürlich nur gelingen, wenn er das Problem seines besonderen Status Quo, seines „Doppelstatus“, löste und nicht irgendwann im Irrenhaus oder sonst wo landete.

Tornis war mit dieser – wie er es nannte: – „rationalen Anpassung seines künstlerischen Werdenswegs“ zufrieden. Sie berücksichtige das Notwendige (siehe Dopplungsproblem, siehe das immer noch gegebene Erfordernis, Gras über die Sache in Egå wachsen zu lassen). Und sie eröffne ihm die Chance, nicht nur seinen Genius zu wahrhaft ungeahnten Höhen zu peitschen, sondern darüber hinaus seinem Bedürfnis nachzukommen – ließe sich der Ansatz denn mit akzeptablem Risiko umsetzen! –, sich tatsächlich näher mit Anna zu beschäftigen. Sie zu sehen. Sie zu schmecken. Sie zu riechen. Ja, zu spüren! ... Denn sie liege ihm schon irgendwie am Herzen, wenn man dies so sagen könne.

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