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Leseprobe aus „Die Methode Cortés – Band I“ – Szene 124


124 Katzensprung


Um zeitliche Engpässe zu vermeiden, legte ich um fünf Uhr am Morgen ab. Mit den angekündigten Windverhältnissen musste ich es spielend vor Einbruch der Dunkelheit bis Frederikshavn schaffen. Bei der Ausfahrt aus der Hafeneinfahrt, die man in diesem Kontext besser als Hafenausfahrt bezeichnen würde, wehte mir ein frisches Brieschen um die Nase. Es wehte noch nicht so stark, dass ich reffen musste, aber stark genug für ein zügiges Vorankommen: Meine Smuk lief problemlos sechs bis sieben Knoten.

Prima. Einer zeitigen Ankunft stand somit nichts mehr im Weg!

Gegen drei am Nachmittag sichtete ich Læesø, eine Insel auf der Höhe von Sæby. Also nur noch ein Katzensprung bis Frederikshavn. Ich freute mich schon auf einen warmen Grog in einer gemütlichen Hafenbar, denn trotz kanadischer Winterausstattung fröstelte mich sehr.

Zwischen Læesø und dem Festland frischte der Wind merklich auf, sodass ich reffen musste. Der Wind drückte mächtig von hinten und ungeachtet deutlich reduzierter Segelfläche schoss das Boot mit annähern neun Knoten dahin. Diese Geschwindigkeit lag eindeutig über dem Wert, den ich mir als Rumpfgeschwindigkeit ausgerechnet hatte, ein Umstand, der nachdrücklich nahelegte, dass ich meine Berechnungen nachrechnen sollte.

Ich hatte den Eindruck, dass es verhältnismäßig kalt war. Auch verschlechterten sich die Sichtverhältnisse. Der Wind blies aus Süden. Unterdessen hatte er Windstärke sieben erreicht, was ich als verhältnismäßig stark empfand. Verhältnismäßig zu stark. So stark vor allem, dass die Wetterverhältnisse nicht der Vorhersage jener rau–schwappenden Männerstimme aus Grenå entsprachen. Ich ging also davon aus, dass die Küstenverhältnisse die Windverhältnisse beeinflussten, indem sich der Wind durch eine Art Düseneffekt zwischen der Insel und dem Festland überverhältnismäßig stark beschleunigte. Nach Passage dieser Engstelle müssten sich folglich sämtliche Verhältnisse verhältnismäßig bessern.

Als ich die Insel hinter mir ließ, stellte ich fest, dass ich mich mit den Determinanten der Wetterverhältnisse verhältnismäßig deutlich vertan hatte, denn die Windverhältnisse frischten in jeder Beziehung noch mehr auf und die Sichtverhältnisse wurden noch schlechter. Und ich war mittlerweile verhältnismäßig müde, arg durchgefroren und unverhältnismäßig stark genervt: Das hier war mir eindeutig zu kalt und zu zugig!

Um mich besser zu schützen, ging ich nach drinnen, mir das Ölzeug und eine Decke zu suchen. Das Steuer überließ ich dem Autopiloten. Ich hatte die Sachen gerade gefunden, da fielen die Wände unvermittelt zur Seite und ein kräftiger Stoß schleuderte mich quer durch die Kabine. – Was war das? – Ölzeug und Decke noch in der Hand, schnellte ich nach draußen und sah, dass der Autopilot aus der Verankerung gesprungen war.

Ich übernahm die Pinne und brachte das Boot auf Kurs. Zum Glück war nichts passiert! Nach einigen Mühen hatte ich den Autopiloten wieder montiert und musste erkennen, dass doch etwas passiert war: Der Autopilot funktionierte nicht mehr!

Ich lag auf der Höhe von Frederikshavn. An und für sich hätte ich meinen Kurs nach Westen ändern müssen, wollte ich nicht gegen den Wind zum Hafen kreuzen. Ich überdachte die Situation: Der Wind schwellte kontinuierlich an und mein Autopilot hatte den Geist aufgegeben. Das waren ernste Einschränkungen für ein gemächliches Einlaufen in meinen Zielhafen. Und wesentlicher: Unmittelbar nördlich der Hafeneinfahrt befand sich Hirsholm, eine Insel mit vorgelagerten Untiefen. Mit defektem Autopiloten bei stürmischem Wind und einer Insel auf Lee in diesen Hafen einzulaufen, hielt ich für zu riskant. Diese Konstellation schrie geradezu nach Legerwall. Aus meinem Grog würde wahrscheinlich so schnell nichts werden. Ich beschloss, nach dem ein Stück nördlich gelegenen, aber „Untiefen–freien“ Skagen weiterzufahren und mich bis dahin in der Decke und meinem Ölzeug, das ich über meine kanadische Winterausrüstung gestreift hatte, aufzuwärmen.

In Gedanken spielte ich durch, wie vor der Hafeneinfahrt von Skagen ohne die Unterstützung des Autopiloten das Großsegel einzuholen sei. Ich testete, die Pinne mit Leinen zu fixieren, um wenigstens kurz Kurs halten zu können, ohne selbst zu steuern. Länger als eine Minute gelang mir dies jedoch nicht. Die inzwischen hoch aufgebaute See schlug mir zu unregelmäßig an den Stern.

Noch war es halbwegs hell, sodass ich gut sehen konnte. Ich entschloss mich, das Tageslicht zu nutzen und das Groß schon jetzt einzuholen. Bei der gegebenen Windstärke und Windrichtung sollte das Vorsegel, das ich später leicht vom Cockpit aus einrollen könnte, für die Weiterfahrt genügen.

Ich ließ die Segel fliegen, lief zum Mast, und machte mich am Großsegel zu schaffen. Das Boot schlug derweil unruhig hin und her und ich hatte Mühe, nicht über Bord gespült zu werden, was trotz Lifebelt unangenehm gewesen wäre. Einige Male rutschte ich ab, konnte mich aber jedes Mal am Mast oder den Wanten festhalten. Schließlich war das Großsegel geborgen, doch das lose Großfall hatte sich im Masttopp verheddert. Da ging nichts mehr, weder hoch noch runter. Ich versuchte das Fall zu befreien. Vergeblich. Es musste von seiner Umlenkrolle im Masttopp gesprungen und dort eingeklemmt sein. Allerdings könnte ich jetzt meine Vermutung weder überprüfen noch den sicher bestehenden Schaden reparieren.

Vielleicht sollte ich das Spinnakerfall verwenden, um das Groß wieder setzen zu können?

Ich löste den Spinnakerfallschäkel aus der Mastöse, in der er eingehakt war, wollte ihn an der Kopföse des Groß‘ festmachen, da knallte ein Brecher auf das Boot und ich fiel um. Zu meinem Bedauern hatte ich, stürzend, das Spinnakerfall „gehisst“, sodass ich das schäkelwärtige Spinnakerfallende nicht mehr zu greifen bekam. Um weiteren Schaden zu vermeiden, holte ich das Spinnakerfall so weit dicht, dass sich der Spinnakerfallschäkel in der Umlenkrolle im Masttopp einkeilte, und verzurrte die freien Groß– und Spinnakerfallenden so gut wie möglich am Mast. Das Großsegel würde ich bei dieser Fahrt nicht mehr verwenden können. Aber ich hatte ja noch das Vorsegel!

Ich kletterte zurück ins Cockpit und klickte den Baum am Achterstag ein. Mittlerweile war ich durchnässt. Skagen und die Dunkelheit näherten sich. Mir missfiel der Gedanke, bei Dunkelheit in Skagen einzulaufen, was aber besser wäre, als um das dänische Nordkap herum zu segeln. Ich hatte keine Vorstellung über die gegenwärtigen Windverhältnisse in der Nordsee. Außerdem war ich müde und fror fürchterlich.

Mit Einbruch der Dunkelheit hatte sich der Wind nochmals gehörig verstärkt. Inzwischen herrschte mindestens Windstärke neun. Ich befand mich demnach in einem Sturm. Auch schien mir der Wind kälter geworden zu sein.

Bis Skagen war es nicht mehr weit, sodass ich mich schon einmal innerlich auf einen Kurswechsel Richtung Hafeneinfahrt vorbereitete. Doch riss sich plötzlich und mit einem heftigen Ruck das Vorsegel von der führenden Vorschot los. Eilig leuchtete ich mit der Taschenlampe nach vorne: Das Vorsegel war umgeschlagen und flatterte arrhythmisch im Wind, die abgerissene Vorschot wurde auf dem Vorschiff hin und her geschwemmt. Entweder hatte sich ihr Schotschäkel geöffnet oder er war gebrochen. Ich verzichtete darauf, die genaue Ursache des Ereignisses zu ermitteln. Stattdessen warf ich den Motor an und rollte das Vorsegel ein.

Was sollte ich tun? Mit nur einer Vorschot könnte ich kaum vernünftig navigieren. Und alleine unter Motor zu fahren, funktionierte bei diesen Wetterbedingungen auch nicht, da der zu schwach, der Seegang zu stark und der Wind viel zu stark war. Ebenfalls verbot sich, das Großsegel zu reparieren. Dazu hätte ich in den Masttopp gemusst, was in dieser Situation schlicht unmöglich war. Ich musste also die Vorschot reparieren!

Entschlossen nahm ich einen Schäkel aus der Ersatzschäkelkiste und begab beziehungsweise hangelte mich auf das Vorschiff. Dort tauschte ich, mich an die Reling klammernd, den Schäkel aus (der alte war gebrochen und baumelte noch in der Unterlieköse des Vorsegels), entwirrte die lose Vorschot, und befestigte diese am neuen Schäkel. Währenddessen klatschten unentwegt eisige Wassermassen auf mich herab, sodass ich kaum die Hand vor den Augen sah. Endlich fertig, atmete ich durch und wollte zurück in die Plicht. Da gab es einen gewaltigen Schlag – ein Brecher musste auf das Boot gekracht sein! – und ich wurde über Bord gespült und hing, an meinen Lifebelt geschnallt, wie ein zu fett geratener Fender an der Seite des Rumpfes. Im ersten Augenblick konnte ich nichts machen. Es hatte mir die Luft aus den Lungen geschlagen. Irgendwie schaffte ich mich aber wieder an Bord und kroch zurück ins Cockpit.

Meine Flanke schmerzte. Ich hatte mir wehgetan. Nach einer Verschnaufpause fuhr ich das Vorsegel ein bisschen aus, um auf Kurs zu gehen und Fahrt aufzunehmen.

Ich war patschnass. Durch den Sturz deutlich „aktiviert“, spürte ich die Kälte aber gar nicht so sehr. Mich jetzt umzuziehen kostete Zeit, in der ich wahrscheinlich an Skagen vorbeitriebe. Außerdem konnte ich mich dort umziehen. Ich überprüfte meine Position und beschloss, direkt Kurs auf Skagen zu nehmen.

Sollte ich das Vorsegel weiter öffnen, damit ich eher da wäre, oder sicherheitshalber etwas einholen?

Ein Ruck unterbrach mein Sinnieren. Die Vorschot hatte sich erneut losgerissen! Ich leuchtete nach vorn: Wieder flatterte das Vorsegel im Wind und die losgerissene Vorschot schlingertanzte auf dem Vorschiff. Frustriert rollte ich das Vorsegel ein.

Was tun? Nun.

Zuerst musste ich meinen Kurs Richtung Osten ändern, um mich von der Küste fernzuhalten. Skagen konnte ich mir heute abschminken. War offenbar nicht mein Tag.

Fiele auch noch der Motor aus, was ich zu diesem Zeitpunkt fast erwartete als finales i–Tüpfelchen der Reisegestaltung, wäre ich quasi manövrierunfähig und müsste ein Auflaufen auf die Küste vermeiden. Oberste Priorität hatte also, vorerst von jeder Küste Abstand zu halten. Der Motor hatte bei den bestehenden Windverhältnissen wenig Einfluss auf die Fahrt, stabilisierte aber meinen Kurs. Ich ließ die Maschine auf viertel Kraft laufen und machte selbst ohne Segel über sechs, manchmal sieben bis acht Knoten Fahrt über Grund. Doch vor weiterem Überlegen wollte ich mich umziehen. Ich fror entsetzlich.

Um das Boot zu stabilisieren, verzurrte ich die Pinne so, dass sie Spiel hatte, eintreffende Brecher abzufedern. Im Schiffsinneren suchte ich mir neue Kleider. Ich fand einen Anorak, mehrere dicke Wollpullis und Jogginghosen. Das sollte genügen. Mein „Garderobenwechsel“ war extrem anstrengend, da ich ständig hin und her geschleudert wurde. Die Leibesübungen wärmten mich aber auf. Schließlich angezogen, streifte ich mein Ölzeug über und kraxelte nach draußen.

Zur Bestandsaufnahme studierte ich die Seekarte. Ich war mindestens zehn Seemeilen in nördlicher Richtung an Skagen vorbeigedriftet und lief klassischerweise „vorm Sturm“ ab. Die Uhr zeigte neun am Abend. Behielte ich diese Geschwindigkeit und Richtung bei, träfe ich am frühen Morgen bei Dunkelheit auf die norwegische Südküste. Sich dieser so zu nähern, wäre aber, wie blind in einen Haifischschlund zu fahren, denn es wimmelte in diesen Gewässern von Felsenriffen und –inseln. Insofern empfahl sich, eine Begegnung mit Letzteren und Vorletzteren und auch Vorvorletzteren tunlichst zu vermeiden. Und auf jeden Fall vermeiden musste ich, bei Dunkelheit anzukommen. Bei Tag hätte ich wenigstens die Chance, mich dort durchzumogeln – wenn ich denn das Vorsegel noch mal fit bekäme. Doch bevor ich mir über das den Kopf zerbrach, musste ich meine Fahrt abbremsen, auf dass mir der Haifischkuss noch eine Weile erspart bliebe. Ich ließ den Motor im Leerlauf weitertuckern, damit ich bei Bedarf schnell Fahrt aufnehmen konnte, und brachte achterlich einen Treibanker aus. Meine Fahrt reduzierte sich auf drei Knoten. Ich hatte Zeit gewonnen.

Zusammengekauert saß ich an der Pinne und schaute in die Dunkelheit. Nach und nach verfiel ich in eine Art Meditation. An den Sturm hatte ich mich gewöhnt. Mich fror. Ich war müde, dachte nur von Brecher zu Brecher. Gelegentlich rauschte ein besonders großer von hinten heran. Ich schaltete dann auf Vorwärtsfahrt, um zu beschleunigen und dadurch die Steuerbarkeit des Bootes in den hereinstürzenden Fluten zu verbessern und auf diese Weise ein Querschlagen zu verhindern. Ab und an dachte ich, dass ich vernünftigerweise gegen den Wind kreuzen und zurück nach Skagen segeln sollte. So ließe sich die Legerwall–Situation vermeiden, in die ich sonst zwangsläufig an der norwegischen Küste geriete. Wie, allerdings, sollte ich nach Skagen segeln? Dazu hätte ich die Vorschot reparieren müssen. Und nach meinen jüngsten Erfahrungen schien das keine gute Idee zu sein. Die Kälte hatte mir inzwischen aber auch arg zugesetzt.

Der Sturm war stark, doch das war nicht das Hauptproblem. Ich hatte ähnliche Windstärken im Mittelmeer erlebt. Der entscheidende Unterschied war die Temperatur. Ich hatte das Gefühl, als höhlte mich die Kälte aus, langsam, schabend, saugend, sich an meinem Leben „benuckelnd“. Und die überkommende See durchnässte mich trotz Ölzeug unaufhörlich. Einen „trockenen“ Zustand konnte ich in diesem Sturm vergessen!

Ich begann, das „Angenehme“ zwischen den großen, sich über das gesamte Boot ergießenden Brechern zu genießen. Kam ein solcher über, erfasste mich ekelhafte Kälte. Klar, denn ich wurde nasser. Langsam aber wärmte mein Körper das Wasser in meinen Kleidern auf, und das war angenehm. Nur währte der Genuss nicht lange, weil schon die nächste Woge überkam.

Die Stunden vergingen. Ich hatte den Eindruck, als befände ich mich seit einer Ewigkeit in diesem Sturm. Die Wellen rauschten, die Fluten grollten, und ich verfolgte das Ganze mit immer geringerer Aufmerksamkeit. Mitunter fielen mir die Augen zu. Im Laufe der Zeit nahm ich die Kälte immer weniger wahr. Bisweilen bäumte sich mein Körper aber in Form eines von meinen Lenden ausgehenden und in meinen Zähnen verebbenden, schmerzhaften Zitterns auf. Ich war dann für einige Minuten wacher, knipste die Taschenlampe an, schaute auf die Seekarte, packte die Sachen ohne Resultat zusammen, und sank wieder in diesen eigenartigen Meditationszustand, der von Stunde zu Stunde tiefer wurde.

Meine rechte Hand verbarg ich im Ärmel des Anoraks. Meine Linke, die meist das Ruder führte, hatte ich zum Schutz vor Kälte mit der Decke umwickelt. Ich spürte die linke Hand kaum noch. Ob das an den frostigen Temperaturen lag oder daran, dass sie seit Stunden die Pinne umklammerte, wusste ich jedoch nicht. Das Ruder zu halten, war anstrengend. Manchmal schmerzten die Muskeln meines linken Arms. Ich wechselte dann kurz die Seite und verwendete eine Zeitlang meine rechte Hand, die Pinne zu führen, bis sich mein linker Arm so weit erholt hatte, dass ich erneut die Seite wechseln konnte. Merkwürdigerweise führte ich die Pinne lieber mit meiner Linken. Mir kam es vor, als fröre ich dabei weniger. Nach einem derartigen Seitenwechsel verfiel ich in den nächsten Meditationszyklus.

Gegen zwei Uhr am Morgen hing ich nur noch kauernd über der Pinne. Mein Oberkörper bewegte sich im Rhythmus des Seegangs hin und her und schien so den Kurs zu stabilisieren. In meinen kürzer werdenden wacheren Phasen versuchte ich, die Zahlen auf dem Kompass oder der GPS–Anzeige zu entziffern. Dies gelang mir kaum noch. Auf einmal dachte ich:

Ich kann nicht mehr. Ich fühlte meine Kräfte versiegen. Verdammt, wie soll ich diese Scheiße bis zum Tagesanbruch aushalten? Und was mach ich dann? Da hatte ich eine famose Eingebung: Ich buche um! Das hier gefällt mir nicht!

Außer einem kurzen Gekicher brachte mir dieser Geistesblitz wenig. Doch etwas musste geschehen. Aber was? Umbuchen konnte ich in der Tat nicht. Aussteigen allerdings schon, wiewohl mir das nicht hülfe. Meine Augen starrten in die Nacht, als ob sie dort nach einer Antwort suchten. Plötzlich sah ich ein Licht. Ich wurde wacher.

Das musste ein Schiff sein!

Zuerst sah ich das Licht nur von Zeit zu Zeit aufblinken. Nach einer Weile blinkte es öfter.

Offenbar näherte es sich mir. Sollte ich eine Seenotrakete abschießen? Ich sank zwar gerade nicht, war aber akut erholungsbedürftig. Und in ein paar Stunden wäre es um mich geschehen. (Dachte ich.)

Zunächst zögerte ich. – Gab es andere Möglichkeiten?– Man sollte von einem Seenotzeichen lediglich Gebrauch machen, wenn hierzu die unabdingbare Notwendigkeit bestand. Mein Schiff schwamm jedoch noch. Das einzige Besatzungsmitglied schien allerdings vollkommen ausgelaugt dem Erfrierungstod geweiht zu sein. Und jetzt böte sich die Möglichkeit, Hilfe zu rufen.

Ich beschloss, eine Seenotrakete abzuschießen. Im Signalköfferchen befanden sich deren zwei. Hoffentlich flogen die noch! (Ich hatte an die brüchigen Schäkel denken müssen.) Ich nahm eine und beobachtete den Horizont. Das Licht war seltener zu sehen. Das Schiff musste sich von meiner Position entfernen.

Sollte ich die Rakete wirklich abschießen? Oder warten, bis es tatsächlich notwendig wäre? Was war tatsächlich notwendig? Bekäme ich erneut diese Gelegenheit? Würde ich es bereuen, wenn ich jetzt nicht handelte? Würde ich überhaupt die Möglichkeit erhalten, irgendetwas zu bereuen?

Kurzerhand zog ich den Trigger. Die Rakete löste sich aus ihrer Verankerung und flog in meiner Wahrnehmung in Zeitlupe davon. Das grell glühende Signallicht beschrieb einen roten, intensiver werdenden Streifen im Nachthimmel, es verlosch, und nach und nach verglomm der rote Schweif. Ein schöner Anblick. Es war getan. Ich wartete. Und nichts passierte.

Der Sturm war nochmals stärker geworden. Das Licht des anderen Schiffes konnte ich nicht mehr sehen. Meine Augen starrten in die Nacht. Um mich herum tobte die See.

Das war’s!, dachte ich nach einer Weile.

Kurioserweise verspürte ich keine Angst, sondern nur schlaffe Resignation. Ich sackte in mich zusammen und in meinem Schädel herrschte fröstelnde Leere. Ab und zu wurde ich aus meiner Apathie geweckt, wenn ein besonders kräftiger Brecher kalte Wassermassen über mich goss. Ich schaute dann kurz auf. Zuweilen brachte ich gar die Energie auf, ihm ein „Arschloch“ hinterherzurufen. Das Meer ließ sich davon gleichwohl nicht beeindrucken.

Bei einer dieser brecherbedingten Unterbrechungen meiner Meditationsübungen sah ich ein Licht am Horizont.

Das musste zu einem Schiff gehören! Vielleicht zu dem Schiff, das sich mir schon mal genähert hatte? Womöglich suchten sie mich?

Ich war jetzt hellwach, packte meine letzte Signalrakete und fixierte das Licht. Es näherte sich. Weiter. Noch ein Stück. Schließlich hatte ich den Eindruck, das Licht sei nahe genug. Ich zog den Trigger. Und der rote Schweif der Rakete erleuchtete den Nachthimmel.

Diesmal verlor ich das Licht nicht aus den Augen. Es wurde stärker. Nach zehn Minuten sah ich ein wuchtiges Schiff, vermutlich ein Schlepper oder eine Seerettungsbarkasse.

Herrlich!

Manchmal verschwand das Schiff, wenn ich in eine Wellenschlucht tauchte, manchmal war es in voller Pracht zu sehen, wenn jeder von uns auf einem Wellenberg war. Endlich war es bis auf dreißig Meter an mich herangekommen.

Ein Besatzungsmitglied schrie mir etwas zu. Ich konnte den Kerl nicht verstehen. Wie sollte man auch bei dem Lärm, den Wind und Meer machten, überhaupt etwas verstehen können? Inzwischen war ein Suchscheinwerfer auf dem Schiff angegangen. Man leuchtete das Meer nach mir ab. Die Schwingungen des Scheinwerfers pendelten sich auf mich ein und das Schiff näherte sich. Es war nur noch zehn Meter entfernt.

Das Besatzungsmitglied schrie mir wieder etwas zu. Ich schrie zurück, ich könne nichts verstehen. Der Mann verstand mich offenbar nicht. Ich versuchte Körpersprache, was besser funktionierte. Der Mann gab mir ebenfalls mit Gesten zu verstehen, man wolle mir ein Ende zuwerfen. Ich solle daran mein Boot festmachen. Ich streckte dem Mann meinen hochgehaltenen rechten Daumen entgegen, und kappte meinen Treibanker, um mögliches Verheddern zu vermeiden. Das Schiff bewegte sich auf mich zu. Wir berührten uns fast. Meine Smuk befand sich auf Bughöhe des anderen Schiffes und ein Gefühl tiefer Befriedigung erfüllte mich:

Ich war gerettet!

Doch hatte ich mich zu früh gefreut: In dem Moment, als mein vormaliger Gestikulierungspartner mir das Ende zuwerfen wollte, schlug ein mächtiger Brecher auf unsere Boote ein. Mein Bötchen machte einen Satz nach vorne und der Bugfender des anderen Schiffes verfing sich in meiner Rollfock. Mein Mast verbog sich leicht und mit einem Mal schnellte die Rollfock aus ihrer Verkeilung mit dem Bugfender und meine Smuk schoss wie ein Pfeil nach vorne. Ich war mir nicht genau darüber im Klaren, ob meine abrupte Vorwärtsbewegung alleine durch das Herausschnellen meiner Rollfock aus der Verkeilung mit dem Bugfender verursacht worden war, oder ob sich ein erneut einschlagender Brecher an diesem Schwung beteiligt hatte. Jedenfalls stob meine Smuk nach vorne und ich sah meine Retter zwischen den Wellenbergen verschwinden.

Ohne Rücksicht auf Wellen und Wind wendete ich hastig und versuchte unter voller Motorleistung auf das Schiff zuzufahren, machte aber keinerlei Strecke auf es gut. Im Gegenteil, der Wind trieb mich rückwärts und brachte meine Smuk beinahe zum Querschlagen. Panisch korrigierte ich den Kurs.

Nachdem ich Smuk wieder unter Kontrolle hatte, spähte ich nach dem anderen Schiff. Ab und an tauchte es auf. Aber wir entfernten uns voneinander.

Hatte es mich verloren?

Ich schaute in der Hoffnung, meine Retter möchten doch bitte nochmals zurückkehren, in der Nacht umher. Nichts. Nach einiger Zeit sah ich noch nicht einmal mehr das gelegentliche Aufblitzen des Suchscheinwerfers.

Eine halbe Stunde später gab ich die Suche auf. Das Ereignis war frustrierend, hatte mich jedoch geweckt. Meine letzte Seenotrakete war verbraucht, die Funksprechanlage wusste ich nicht zu bedienen. Ich musste mir also selbst helfen.

Wenn ich mir denn überhaupt noch selbst helfen konnte! Was überhaupt konnte ich noch? Konnte ich überhaupt noch?

Ich sank resigniert über meiner Pinne zusammen und mich überschwemmte die bestürzende Gewissheit, dass mein Leben nun an seinem Endpunkt angelangt sei. Dies sei es jetzt gewesen!

Ich spürte einen befremdlichen, hohlen Druck, der sich wuchtig von meinem Brustkorb bis in meinen Schädel ausbreitete. Und dann rauschte es in meinem Kopf. Schwarz rauschte es. Tief schwarz. Das war weniger Angst als hoffnungsloses Entsetzen. Grauenhaftes Entsetzen! Ich sah mich jenseits meiner letzten Option. Es war das erbarmungslose Wissen, ausgespielt zu haben. Ich hatte meine letzte Karte auf den Tisch geknallt – und das Spiel verloren. Mir blieb nur der zweifelhafte Genuss, mein Ableben miterleben zu dürfen. Ich hatte noch nicht einmal mehr die Möglichkeit, dieses mit Sicherheit einmalige, mir aber nicht willkommene Spektakel dankend abzulehnen.

Unverhofft brodelte eine Mischung aus zitternder Angst und zischender Wut in mir hoch:

Sollte das hier tatsächlich das Ende meines ach so geliebten Lebens sein? Ich wollte nach Polynesien! Und nun verreckte ich schon am Anfang meiner Reise irgendwo in der Nord– oder Ostsee? ... War ich jetzt eigentlich noch in der Ostsee oder schon in der Nordsee?

Ich musste ob der Idiotie meiner Frage lachen. Offensichtlich spuckte ich mit diesem Lachen meine Angst in den Wind, denn mich packte ein machtvoll pulsender Zorn:

Jetzt sterben? Nein, so einfach nicht! Das wäre absolut inakzeptabel, jetzt zu sterben! Dagegen würde ich mich mit allem, was ich hatte, zur Wehr setzen. Selbst wenn ich dabei draufginge!

Mir wurde auch die Absurdität dieses letzten Gedankens bewusst. Aber ich entschloss mich trotzdem, mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu wehren und zu kämpfen, bis ich gewänne oder krepierte. Doch zuerst brauchte ich einen Plan.

Ich stierte in die Nacht. Ließe ich mich weiter auf Norwegen zutreiben, käme es garantiert zu einem Showdown mit einer der vielen Untiefen oder unzähligen Inseln vor dieser Küste, der mir je nach Wetter– und Sichtverhältnissen keine Chance ließe. Meine einzige reale Chance war, nach Skagen zu kommen.

Der Sturm blies mittlerweile aus südsüdöstlicher Richtung. Mit hartem Am–Wind–Kurs müsste ich gerade östlich des dänischen Nordkaps in die Bucht von Skagen einsegeln können. Dazu brauchte ich allerdings das Vorsegel. Wenigstens war das Rigg nach der Havarie noch in Ordnung. Ich fasste mir ein Herz, griff mir einen Ersatzschäkel und robbte aufs Vorschiff. Auch der Schäkel, den ich zuletzt eingesetzt hatte, war gebrochen. Er baumelte wie üblich in der Unterlieköse. Ich tauschte ihn aus und befestigte die Vorschot an der Fock.

Zurück im Cockpit brachte ich den Motor auf volle Fahrt, setzte ein viertel Vorsegel und änderte den Kurs auf Skagen. Der neue Kurs war ungemütlich. Ich fuhr schräg gegen den Sturm an. Ständig ergossen sich Brecher über das Boot und ich war trotz Ölzeug allzeit völlig frisch durchnässt. Ich machte aber gute Fahrt und konnte den Kurs halten. Im Schnitt kam ich mit sieben Knoten voran. Sollte ich den halten, müsste ich vor dem nächsten Sonnenuntergang in Skagen sein, auch wenn ein paar Kreuzschläge notwendig wären, um Höhe zu gewinnen.

Wenn nur schon die Sonne da wäre!, dachte ich.

Ich sah so gut wie nichts. Die herannahenden Wellen konnte ich nur von ihrem Grollen her ausmachen. Einige Male überraschte mich ein Brecher und brachte das Boot fast zum Querschlagen. Doch meine Smuk ließ sich hervorragend steuern und korrigieren. Wie ein Stehaufmännchen wippte sie sich immer wieder auf und streckte dem Sturm trotzig ihr Näschen entgegen. Trotzdem sehnte ich den Sonnenaufgang herbei. Dann sähe ich wenigstens und könnte die Wellen besser abwettern.

Der Sonnenaufgang war so etwas wie die Erfüllung meiner nächsten Hoffnung. Vielleicht konnten mir die Sonnenstrahlen etwas Wärme geben. Wegen des deutlich raueren Segelkurses war mein gesamter Körper angestrengt, was mich geringfügig aufgewärmt hatte. Mir war jedoch nach wie vor erbärmlich kalt. Oft klapperten meine Zähne von einem mich durchlaufenden Schauer. Viel Zeit zum Klappern blieb ihnen freilich nicht, denn schon prasselten die Fluten des nächsten Brechers auf mich herab. Ich erstarrte kurz vor Kälte, spuckte das Meerwasser aus, und brüllte den Wellen aus vollem Leib ein „Arschloch“ entgegen.

Mir half diese absurde Beschimpfung, glaube ich, mehr als alles andere. Ich wunderte mich, wo ich auf einmal die Kraft hernahm, diesen Kurs zu segeln, obschon ich wenige Stunden zuvor bereits gedacht hatte, am Ende zu sein. Und wenn ich wütend ein „Arschloch“ schrie, machte dies jedes Mal neue Kräfte in mir frei. Offenbar personifizierte ich den Sturm durch die persönliche Anrede als „realen Gegner“, dem ich mich nicht geschlagen geben wollte. Das war natürlich lächerlich. Wäre der Sturm nur ein wenig stärker gewesen, hätte ich nicht die geringste Chance gehabt und wäre mit einem „Arschloch“ auf den Lippen dieser schnöden Welt entwichen. Gleichwohl half er mir, mein kleiner „Trick“.

Irgendwann ging die Sonne auf. Der Sturm tobte unvermindert wuchtig. Jetzt konnte ich aber die herannahenden Wogen besser abwettern, weil ich sie sah. Ich kontrollierte meine Position. Ich war zu sehr nach Norden abgedriftet und hätte einen Kreuzschlag von zehn Seemeilen nach Osten machen müssen, um an diesem dämlichen dänischen Nordkap vorbei nach Skagen zu kommen.

Sollte ich lieber nach Hirtshals segeln? – Nein!

Denn die Strecke bis zu diesem an der Nordseeküste Dänemarks gelegenen Ort wäre auch ohne Kreuzschlag fast dreißig Seemeilen länger gewesen, als der Weg nach Skagen. Vor Sonnenuntergang hätte ich sie also kaum schaffen können. Und eine weitere Nacht auf See wollte ich unter allen Umständen vermeiden, musste ich unter allen Umständen vermeiden! Ich machte somit einen Kreuzschlag, und Skagen blieb mein Ziel.

Um zwölf Uhr Mittag sah ich erstmals die Küste. Das fühlte sich an, als hätte ich nach wochenlanger Irrfahrt einen Kontinent entdeckt. Nun, ich wusste nicht, wie es sich anfühlte, einen Kontinent zu entdecken. Doch so stellte ich mir das vor.

Der Sturm hatte inzwischen nachgelassen. Nahe dem Nordkap verstärkte er sich jedoch noch einmal und wurde böig. In einer dieser Böen riss meine Vorschot aufs Neue aus.

Fluchend rannte ich nach vorne. Auch dieser Schäkel war gebrochen. Ich verzichtete diesmal darauf, ihn auszutauschen. Stattdessen schnitt ich die Ösen der Vorschoten ab und befestigte die Schoten jeweils mit einem Palstek in der Öse des Unterlieks. Meine Smuk vollführte zwischenzeitlich fast Purzelbäume in den sich herandrängenden Wellen, richtete sich aber immer wieder auf. Erstaunt über die Stabilität des Schiffes, eilte ich in mein Cockpit und nahm Kurs auf.

Endlich konnte ich den Hafen von Skagen ausmachen. Welch wunderbare Erfahrung es war, die sich nahezu eine Seemeile bis zur Hafeneinfahrt ziehende Kaimauer in der Nachmittagssonne zu betrachten! Trotz kalten Windes. Ich ließ das Vorsegel bis auf Höhe der Hafeneinfahrt stehen und fuhr lediglich die letzten fünfzig Meter ausschließlich unter Motor. Am Sonntag, dem 27. November des Jahres 2005, lief ich gegen vierzehn Uhr in Skagen ein. Ich war geschafft. Aber ich hatte es geschafft!

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