top of page

Leseprobe aus „Daniel Wolters seltsamer Reise zwischen den Zeilen“ – Szene 24


24 Der Hochzeitstanz


Ein halbes Jahr nach der „feurig–lodernden“ Liebesnacht im „Hotel Peripher“. Der Hochzeitstag. Auf eine kirchliche Trauung hatten Daniel und Charlotte verzichtet. Als praktizierender Agnostiker hatte Daniel gemeint, das Standesamt genüge doch. Aber eine Hochzeitsfeier hatte sein müssen. Über hundert Gäste hatten sie geladen. Wäre es nach Charlotte gegangen, hätten es auch zweihundert sein können. Oder zweitausend! Die ganze Welt solle wissen, wie glücklich sie seien!

Das Hochzeitsmahl – man hatte sich in Schloss Ehreshoven, einem bezaubernden Waldschloss unweit von Köln, eingemietet – eröffnete Professor Klaus Weißhaupt, Daniels bester Freund noch aus Studientagen, mit einer „spontanen“ Hochzeitsrede, wodurch manche der schon hungrig werdenden Gäste mit einer gewissen Nervosität erfüllt waren. Doch Herr Weißhaupt liebte es, bei großen Anlässen große Reden zu halten. So strich er sich das blauschwarze Haar aus der Stirn und bedachtsam nach hinten und hob sein Sektglas und zur Rede an, nachdem er dieses, wie bei derartigen Anlässen üblich, mit einem Dessertgäbelchen hatte hochfrequent erklingen lassen:

„Liebe Festgäste, liebe Angehörige, liebes Brautpaar. Ich möchte Sie alle hier und heute und an diesem feierlichen Orte willkommen heißen, und Ihnen allen – und selbstverständlich uns allen voran unserem charmanten Brautpaar – einige aus tiefem Herzen kommende Worte zu diesem großartigen Anlass, zu dieser großartigen Stunde, zu diesen großartigen Hochzeitsfeierlichkeiten widmen. Worte, die ...“

Daniel lehnte sich behaglich zurück.

Klaus verstand es wirklich, den angemessenen Tonfall zu treffen. Kein Wunder: Als Wissenschaftler (Herr Weißhaupt war Professor am Institut für Genetik der Universität zu Köln) war er es schließlich gewohnt, großartige Reden vor großartigem Publikum zu halten. Dazu tat Klaus‘ stattliches Aussehen (kantig–schnittige Gesichtszüge, hoch und schlank gewachsen, und mit jeder Faser seines athletischen Körpers die Dynamik eines Zwanzigjährigen versprühend) ein Übriges, die Zuhörer zu fesseln.

„... widmen. Und damit verbunden sehe ich eine tiefgreifende Verantwortung, eine Aufgabe, ja, eine Pflicht, insbesondere in dem mir zugefallenen Amt des Trauzeugen unseres lieben Bräutigams, das ich natürlich von Herzen gerne übernommen habe. Nichts lieber getan hätte ich, als Herrn Wolter ...“ Professor Weißhaupt neigte Daniel leicht die Stirn zu und lächelte ihn stimmungsvoll an, „... als Daniel – man vergebe mir als tief verbundenem Freund die unkonventionelle Anrede – ...“, und er fuhr, sich wieder mit all seiner Würde an die Hochzeitsgäste wendend, fort: „... diesen Freundschaftsdienst zu erweisen, ihm Trauzeuge zu sein. Und ihm und uns allen einige diesen neuen, so wichtigen Lebensabschnitt einläutende Worte mit auf den Weg zu geben. Worte, die Momentum sein können für die Reise in eine glückliche Zukunft!“

Herr Weißhaupt räusperte sich und nippte bedächtig an seinem stillen Wasser, das er in weiser Voraussicht neben seine Sektschale gestellt hatte. Auch Daniel nippte. An seinem Sekt. An Daniels.

Nichts lieber getan!, dachte er. War wohl tatsächlich so gewesen, dieses Mal, denn regelrecht gebettelt hatte Klaus darum, ihm diesen „Freundschaftsdienst“ erweisen zu dürfen. Anders als beim letzten Mal. Als er ihm diesen Dienst verweigert hatte! – Ja, damals hatte Klaus nicht gewollt. Wegen der Zweifel, die er an der Tragfähigkeit dieser Ehe habe. Genau. Tragfähigkeit hatte er gesagt! Er habe Zweifel an der Tragfähigkeit dieser Ehe. Da sei er sich sicher, so wie er Agathe kenne. Weil sie unehrlich sei!

„Stimmt etwas nicht?“, legte Charlotte ihre Hand auf Daniels.

„Nein, nein. Alles in Ordnung“, lächelte er, und seine Hand entspannte.

„Das macht dein Freund sehr schön mit der Rede“, flüsterte Charlotte Daniel zu, „Der hat echt ein tolles Gespür.“

„Da hast du recht, das hat er.“

Ja, das musste man Klaus in der Tat lassen, dachte Daniel, Gespür hatte er. Das hatte er sich seinerzeit schon eingestehen müssen, trotz seines Ärgers über diese Trauzeugengeschichte, dass Klaus mit seinen Zweifeln irgendwo richtig gelegen hatte. Denn Agathe war nun eben oft nicht ehrlich gewesen! Sogar ihren Eltern gegenüber, denen sie, nur um den Besuch bei Brüderchen Amadeus in Buenos Aires zu vertuschen, dreist erzählt hatte, sie spiele an Weihnachten beim „Chicago Symphony Orchestra“ vor. Da musste man doch misstrauisch werden! Und das passte auch zu Klaus’ Zweifeln. Aber war das genug gewesen, Agathe quasi die Ehetauglichkeit abzusprechen?

„Prost, mein Schatz“, unterbrach Charlotte Daniel.

„Prost, mein Herz“, erwiderte er, griff seinen Sekt, und lächelte.

Charlotte ebenso und ließ die Gläser klingen.

„Mein Sekt ist alle!“, meldete sich schielend strahlend Daniels Vater, der neben Charlotte Platz genommen hatte und sich augenscheinlich wohlfühlte.

„Einen Moment, Opa“, sagte Charlotte und schenkte ihm nach.

Opa Wolter hielt sich ein Auge zu und betrachtete gierig das sich füllende Glas. Charlotte mochte „Opa“, wie sie Daniels Vater zu nennen pflegte. Dieser, ehedem Direktor des Landesmuseums Mainz, war ein schmächtiges, glatzköpfiges Männlein von mindestens neunzig Jahren, das aber noch aussah wie achtzig. Zur Hochzeitsfeier hatten sie Opa Wolter (er war dement wie eine vertrocknete Küchenschabe!) aus dem Heim gelassen. Herr Wolter Senior trug immer schwarz seit dem Tod seiner Gemahlin, einer mondänen Dame aus einer alteingesessenen Mainzer Patrizierfamilie. (Frau Wolter war von einem grausigen Unfall dahingerafft worden: sie hatte den Whirl zu stark gestellt, als sie sich im Whirlpool geföhnt hatte. Daniel war damals gerade einmal dreißig Jahre alt gewesen! Ein schwerwiegendes Trauma für ihn.) Jedenfalls fühlte sich Opa Wolter jetzt gut. Trotz schwarz. Trotz Demenz. Und gerade wegen des Sektglases, das inzwischen wieder gefüllt war. Hastig griff er es und schüttete es sich in den Rachen, dass es nur so platschte. Seine Augen zuckten wirr nach außen und er krächzte wie eine psychotische Krähe:

„Mein Sekt ist alle!“

Nach einer Stunde – Herr Weißhaupt hatte inzwischen zur Freude aller seinen Vortrag beendet (wahre Freudentänze waren danach ausgebrochen, dass man die Polizei hatte rufen müssen, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen) – tippte Charlotte Opa Wolter an die Schulter, der, die Stirn auf der Tischkante und die Arme schlaff zu Boden hängend, eingenickt war:

„Opa, wach auf! Das hier wird dir gefallen!“

Charlotte hatte diesem Moment entgegengefiebert: Dem Auftritt ihrer Jazzgymnastikgruppe. (Die Damen hatten für die Hochzeit einige Tanznummern einstudiert.)

Ein erwartungsvolles Raunen durchflutete den Raum, als die Ballerinen die Bühne betraten, oder besser gesagt, als sie auf die Bühne flatterten: Sie waren als Schmetterlinge verkleidet, mit leichten, durchscheinend–seiden schimmernden Flügelpaaren in spiraligen Rosaschattierungen, plauschig–plüschigen rosa Blüschen mit weißen Rüschchen, und puscheligen, weiß–gelb geblümten rosafarbenen Rüschchenröckchen. Eine wahre Pracht! Und die Balleretterlinge legten los.

Zuerst auf dem Programm stand eine avantgardistische Adaptation von „Quando quando“. Das Publikum tobte. Arme hakten sich unter, Rümpfe schwangen und alle Gesichter waren mit Strahlen erfüllt. So ging es weiter. Eine Nummer überbot die andere. Und dann der Höhepunkt: Charlottes Chorgruppe „ConCord(i)a vocalis e.V.“ (Charlotte sang auch gern) sprang auf die Bühne und präsentierte „Eine Ehe, die ist lustig“, eine vom aktuellen Anlass inspirierte Interpretation von „Eine Seefahrt, die ist lustig“. Überaus gelungen.

Die Gäste standen auf, reckten die Hälse, Wellen spontanen Beifalls durchrauschten das lustige Liedchen, und auf der Bühne schwebten die Schmetterlinge und flogen die Beine: Erst das eine Beinchen hoch und runter, Hüpf–er–chen, dann das andere Beinchen hoch und runter, Hüpf–er–chen. Und wieder das eine Beinchen hoch und runter, Hüpf–er–chen, und dann das andere Beinchen hoch und runter, Hüpf–er–chen. Es war herr–lich–lich! Die Röckchen flogen, die Beinchen hüpften, und die Brüstlein wippten beschwingt im Takt der Hüpf–er–chen.

Die Stimmung war bombastisch. Da zuckte es nur so in den Beinen, in allen. Und Charlotte wippte fröhlich mit auf ihrem Stuhl. Opa Wolter – er hatte sich unterdessen seinen siebten Sekt eingeschüttet, um wieder etwas wacher zu werden – gefiel das auch. Er legte sein Gebiss in die Sektschale, sprang auf und schwang sich, die Augen nach außen zuckend und den Gehstock gekonnt über dem Kopf wirbelnd, leichtfüßig wie eine Almelfe auf die Bühne. Dort wurde er von einem ganzen Schwarm umherschwirrender Schmetterlinge empfangen, die ihm unter die Arme griffen und ihn mit hüpfen und mit springen und mit wippen ließen, dass es einem schwindelig werden konnte. Über das ganze Gesicht strahlte Opa Wolter, und seine Augen zuckten munter.

Charlotte hielt nun nichts mehr. Mit fliegendem Brautschleier schnellte sie auf die Bühne und wurde zum schönsten aller Schmetterlinge. Alles flog, hüpfte, wippte, schwang, flatterte und die Luft schien von glitzernder Freude und unzähligen schwirrenden Schmetterlingen durchdrungen zu sein.

31 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comentários


bottom of page